Code: unbekannt

- | Frankreich 2000 | 116 Minuten

Regie: Michael Haneke

Ausgehend von einer Begegnung auf einem Pariser Boulevard, versammelt der Film eine Hand voll Menschen und Geschichten, die lose miteinander verbunden sind. Aus scheinbar willkürlichen Fragmenten wird ein vielfach gebrochenes, distanziertes und zugleich hoch codiertes Gegenwartsbild montiert, in dem viele aktuelle Diskurse aufgegriffen werden, u.a. über Migration und Rassismus, das Verhältnis von Wahrheit und medialer Inszenierung, Zivilcourage und Schuld. Der ebenso dichte wie spannende Film erweist sich als Michael Hanekes neuerliches Lob des Fragmentarischen und als Einspruch gegen die beständige Tendenz des menschlichen Geistes zur Sinnstiftung. - Sehenswert.
Zur Filmkritik filmfriend

Filmdaten

Originaltitel
CODE: INCONNU
Produktionsland
Frankreich
Produktionsjahr
2000
Produktionsfirma
MK2 Prod./Les Films Alain Sarde
Regie
Michael Haneke
Buch
Michael Haneke
Kamera
Jürgen Jürges
Musik
Giba Gonçalves
Schnitt
Andreas Prochaska · Karin Hartusch · Nadine Muse
Darsteller
Juliette Binoche (Anne) · Thierry Neuvic (Georges) · Josef Bierbichler (Bauer) · Hélène Diarra (Aminate) · Ona Lu Yenke (Amadou)
Länge
116 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert.
Externe Links
IMDb | TMDB | JustWatch

Diskussion
In den letzten Jahren hat jeder Film Michael Hanekes Kritik wie Publikum gespalten. Seine distanzierten Vexierspiele scheinen inzwischen auch unter Cineasten zunehmend auf Abwehr zu stoßen, wie die verhaltene Aufnahme seines jüngsten Films bei der Premiere in Cannes zeigte. Versucht man, der Reserviertheit auf den Grund zu gehen, begegnet man vielen Argumenten, die sich aber alle in einem Punkt auffällig ähneln: Haneke sei Haneke, heißt es sinngemäß, und dessen Programmatik hinlänglich bekannt. In der Tat kann man sich mit den Schlagworten von der „Vergletscherung“ oder dem „pädagogischen Kino“ mühelos auch „Code: unbekannt“ entledigen, zumal der Film keine exzessiven Gewaltszenen enthält und somit keinen Anlass zur Entrüstung bietet. Doch war Hanekes Verweigerung dem Erzählkino gegenüber nicht immer schon unter dem Zeichen einer offenen Kommunikation gestanden, die weniger auf den Regisseur als auf den Rezipienten verwies, der in einen Dialog mit dem Kunstwerk zu treten hat? „Code: unbekannt“ besteht im Wesentlichen aus etwa zwei Dutzend Plansequenzen, in denen eine sehr verhaltene Kamera dem meist dialogarmen Geschehen folgt. Traditionelle filmische Orientierungshilfen wie Einstellungswechsel, dramaturgische Steigerungen oder Musik fehlen nahezu gänzlich - der Zuschauer ist mit sich und den insistierend-beobachtenden Bildern allein. In der Eingangssequenz steht ein gehörloses Kind vor der weißen Wand einer Turnhalle und versucht, seinen Mitschülern einen emotionalen Zustand so plastisch vorzuspielen, dass diese ihn entschlüsseln können. Die Kinder mühen sich minutenlang, ohne Erfolg. Plötzlich folgt eine Schwarzblende, der Titel und ein Zusatz: „Unvollständige Geschichten von verschiedenen Reisen.“ Worum geht es? Jedenfalls nicht um eine Einführung in die Kommunikationstheorie, auch wenn der Filmtitel zu solcher Annahme verleitet. Haneke versammelt eine Hand voll Gesichter und Geschichten, die lose und doch zugleich kausal miteinander verwoben sind, und montiert aus den scheinbar willkürlichen Fragmenten ein vielfach gebrochenes, unendlich distanziertes, zugleich hoch codiertes Gegenwartsbild, das auf einem belebten Boulevard in Paris beginnt, wo die Schauspielerin Anne dem Bruder ihres Freundes Georges begegnet. Jean ist vom Bauernhof seines Vaters geflohen, weil er auf dem Land keine Zukunft für sich sah. Da Anne auf dem Weg zu einem Vorsprechtermin ist, entspinnt sich ihre Konversation im Gehen. Jean erhält ihre Wohnungsschlüssel. Auf dem Rückweck wirft er ein zerknülltes Stück Papier achtlos in die Hand einer Bettlerin, was einen jungen Schwarzen so empört, dass er Jean nacheilt und von ihm verlangt, sich bei der Bettlerin zu entschuldigen. Es kommt zum Gerangel, die Polizei greift ein, der Schwarze wird verhaftet, die Bettlerin, die keine Aufenthaltsgenehmigung besitzt, abgeschoben. Gut zehn Minuten dauert diese Sequenz, die ein ganzes Universum durchmisst und durch die Besetzung mit Juliette Binoche zusätzliche Aufmerksamkeit erfährt. Der Film begleitet diese fünf Figuren, zu denen sich noch einige hinzugesellen. Die Themen, die dabei zur Sprache kommen, sind vielfältig und - wie bei Haneke üblich - aus aktuellen Diskursen gegriffen. Es geht u.a. um Migration und ihre unzähligen Folgen, um Ausländerfeindlichkeit, Rassismus und Generationskonflikte, um Fragen nach der Realität von Bildern und Filmen sowie dem Grad ihrer Authentizität, um den Unterschied zwischen unmittelbarer und vermittelter Erfahrung, um das Verhältnis von Wahrheit und medialer Inszenierung, Zivilcourage und Schuld. Eine von Hanekes unübertroffenen Stärken ist es, Szenen so radikal auf das Wesentliche zu konzentrieren, dass der Blick frei wird für eine Vielzahl von Bezügen, innerhalb derer sich das jeweilige Handlungsfragment bewegt. Erst dadurch öffnen sich die scheinbar leeren oder „langweiligen“ Einstellungen dem Zugriff des Interpreten, der für eine solch sinnliche Unmittelbarkeit ab und zu auch weniger elegante inszenatorische Lösungen in Kauf nimmt. Da dieses Verfahren prinzipiell unabschließbar ist, gerät auch die Filmkritik in die wenig geliebte Lage, nicht definitiv angeben zu können, worum es letztlich in „Code: unbekannt“ geht. Natürlich spielen gestörte Kommunikationsprozesse auf allen Ebenen eine zentrale Rolle, womit freilich noch kaum etwas gesagt ist. Wenn Sepp Bierbichler als knurriger Bauer mürrisch die Brotkrummen auf dem Tisch mit seinen Fingern zusammenstreicht und Juliette Binoche ihm zögernd ihre Hand auf den Arm legt, dann sitzen dort zwei Menschen, die sich zugetan sind und doch keinen Weg zueinander finden können, weil das Leben, d.h. die Mischung aus Biografie, Zeit, Umständen, Schicksal und Zufall, solches nicht vorgesehen hat. Haneke klagt nicht und formuliert erst recht keinen Appell; er tut wenig mehr als in einer Weise teilhaben zu lassen, die im günstigen Fall für einen kleinen Ausschnitt der Wirklichkeit die Augen öffnet. Diese standhafte Verweigerung, filmische „Geschichten“ zu erzählen und den Kunstcharakter des inszenierten Scheins vergessen zu machen, den Haneke in den Film-im-Film-Szenen um den „Sammler“ ironisch konterkariert, lassen an „Code: unbekannt“ am ehesten ein neuerliches Lob des Fragmentarischen hervorheben, das gegen die beständige Sinnstiftungstendenz des menschlichen Geistes immer wieder aufs Neue einen Einspruch formuliert. Insofern liegt gerade in der Wiederholung, dass der „Code: unbekannt“ sei, eine der markantesten Sinnspitzen von Hanekes ebenso dichtem wie spannendem Film.
Kommentar verfassen

Kommentieren