Zeit der Männer, Zeit der Frauen

- | Tunesien/Frankreich 2000 | 124 Minuten

Regie: Moufida Tlatli

Eine tunesische Frau, Mutter von zwei erwachsenen Töchtern und einem autistischen Sohn, kehrt auf die Insel Djerba zurück, wo sie aufwuchs und ihre ersten Ehejahre verbrachte. Dabei erinnert sie sich der wechselvollen Jahre unter der strengen Obhut ihrer Schwiegermutter. Komplex strukturierter Frauenfilm, der über ein dichtes Geflecht aus Rückblenden, Träumen und Reflexionen ein differenziertes Bild des Lebens in Tunesien zeichnet und dabei das Unvermögen, über intime Dinge zu sprechen, als Grundübel skizziert. Der Film will jedoch weniger eine Bestandsaufnahme als eine Anleitung zur Selbstwahrnehmung sein. (O.m.d.U.; Fernsehtitel: "Die Zeit der Männer") - Sehenswert ab 14.
Zur Filmkritik

Filmdaten

Originaltitel
LA SAISON DES HOMMES
Produktionsland
Tunesien/Frankreich
Produktionsjahr
2000
Produktionsfirma
Magrehbfilms Carthage/Les Film du Losange
Regie
Moufida Tlatli
Buch
Moufida Tlatli · Nouri Bouzid
Kamera
Youssef Ben Youssef
Musik
Anouar Braham
Schnitt
Isabelle Devinck
Darsteller
Rabia Ben Abdallah (Aicha) · Sabah Bouzouita (Zeineb) · Ghalia Ben Ali (Meriem) · Hend Sabri (Enma) · Ezzedine Gennoun (Said)
Länge
124 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
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Diskussion
Türkisblaues Wasser umspült die Frauen, die sich nahe dem Ufer Henna aus den Haaren waschen und wie eine Schar junger Küken durcheinander schnattern. Trotz aller Ausgelassenheit liegt eine elektrisierende Spannung über der Gruppe, weil die Schönheitspflege auf ein einziges Ziel ausgerichtet ist: die Heimkehr der Männer, den Beginn der „Saison des hommes“, die nach elf Arbeitsmonaten jedes Jahr für vier kurze Woche auf die Insel Djerba zu ihren Frauen und Familien zurückkehren. Diesem Augenblick, wenn das Auto laut hupend und in einer Staubwolke vor dem Anwesen hält, haben Aicha und ihre beiden kleinen Töchter Meriem und Emna lange entgegengefiebert, und bald wird ein fröhliches Fest zugange sein. Doch diesmal ist alles anders. Seit sich Aicha dem Diktat der Großmutter widersetzte, die während der Abwesenheit der Männer über den Frauenclan das Sagen hat, herrscht im lichten Innenhof eisiges Schweigen, das auch nur zögerlich wieder dem „normalen“ Gang der Dinge weicht, nachdem Aicha auf massiven Druck ihres Mannes hin Abbitte geleistet und sich der Matriarchin aufs Neue unterworfen hat. Jahre später erinnert sich Aicha an diese demütigende Szene, als sie zusammen mit den inzwischen erwachsenen Töchtern und ihrem autistischen Sohn Aziz wieder nach Djerba zieht; freiwillig und aus eigenen Stücken, weil ihr Mann sie inzwischen verlassen hat. Damals, als junge Frau, hatte sie ihn Jahr für Jahr vergeblich bekniet, sie und die Kinder mit nach Tunis zu nehmen und aus der rigiden Obhut ihrer Schwiegermutter zu befreien; erst als sie ihm endlich einen Sohn geboren hatte, öffnete sich ein Weg aus dem ländlichen Gefängnis; doch ein behindertes Kind wollte Said erst recht nicht um sich haben. Wie schon in „Palast des Schweigens“ (fd 32 842) entwirft die tunesische Regisseurin Moufida Tlatli auch ihren zweiten Film als dichtes Geflecht aus Rückblenden, Träumen und Erinnerungen, die sich erst im Laufe des Films zu einem Ganzen ordnen. Der Film beginnt in der Gegenwart mit eher kühlen, beengenden, auch ein wenig statischen Bildern, blendet dann aber fließend und ohne dass man die Zusammenhänge sofort verstehen würde, in die Vergangenheit zurück, wobei er nach und nach auch Aichas Perspektive zugunsten mehrerer Figuren weitet. Das stört nicht weiter, weil die Handlung trotz ihrer fragmentierten Struktur eine eigene Dynamik entwickelt und überdies die Technik und das Handwerk des Teppichwebens zur einer zentralen Metapher wird. Aichas innere Unabhängigkeit gründet nämlich nicht nur in ihrem Charakter, sondern auch in ökonomischen Zusammenhängen: Ihre selbstentworfenen Teppiche finden bei den Touristen Anklang, weshalb sie Said zu ständiger Produktion anhält; außerdem bietet der Webstuhl Gelegenheit, sich dem Einfluss ihrer Schwiegermutter zu entziehen; im Schlussbild entdeckt auch noch das autistische Kind sein Interesse am filigranen Spiel mit Farben und Fäden. „Zeit der Männer, Zeit der Frauen“ ist ein reicher (Frauen-)Film, der nicht nur über eine Vielzahl von klar konturierten Figuren und interessanter Nebenstränge verfügt, sondern auch eine Reihe von Themen transportiert, die tiefe Einblick in die tunesische Wirklichkeit erlauben. Auffällig sind beispielsweise die blassen Männerfiguren, deren Machtanspruch zwar nicht in Frage gestellt wird, die im Vergleich zu den Frauen aber passiv, träge und gelangweilt erscheinen. Anhand der drei (Frauen-)Generationen lässt sich der gesellschaftliche Wandel ebenso erahnen wie die Beharrungskraft jahrhundertealter Traditionen; und über die mitunter nicht ganz leicht zu durchschauende filmische Struktur vermittelt sich außerdem ein plastischer Eindruck von der Verschlingung der Gegenwart mit vergangenen Ereignissen. Der Film kommt ohne viel Worte aus, was ihn intensiv und dicht erscheinen lässt. In der Sprachlosigkeit spiegelt sich hier jedoch ein Unvermögen, innere Vorgänge in Worte zu fassen, das Moufida Tlatli als eines der größten Hindernisse auf dem Weg zur Emanzipation tunesischer Frauen betrachtet. Ihr Film will deshalb weniger eine Bestandsaufnahme als vielmehr eine Art Anleitung zur Selbstreflexion sein, zur Selbstwahrnehmung von Frauen aus islamischen Ländern. Westlichen Betrachtern kann er vor allem ein Gefühl von Fülle, Weisheit und Ruhe vermitteln, weil das Leben der Frauen trotz aller Einschränkungen in einer Selbstverständlichkeit gründet, die sich weder aus Arbeit noch Anerkennung wächst.
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