Stratosphere Girl

- | Niederlande/Deutschland/Italien/Schweiz/Großbritannien 2004 | 85 Minuten

Regie: M.X. Oberg

Eine 18-jährige Deutsche zeichnet mit Leidenschaft Comics und will ihre Kunst in Tokio vervollkommnen. Sie verdingt sich als Hostess in einem exklusiven Nachtclub und gerät in Gefahr, als sie sich für das Schicksal einer verschwundenen Russin interessiert. Wie eine Detektivin lässt sie sich durch die Stadt treiben, wobei ihre Erlebnisse und Empfindungen in ihren aktuellen Comic einfließen, mit dessen Heldin sie im Lauf der Handlung verschmilzt. Eine auf mehreren Erzählebenen angesiedelte Reflexion über das Geschichtenerzählen und die Konstruktion von Wirklichkeit. Japan-Essay, Detektivgeschichte und Traumnovelle in einem, vermittelt die unangestrengte Suche ein gegenwärtiges Lebensgefühl und bezaubert durch eine Schwerelosigkeit, die zur Reise ins Innere des Bewusstseins einlädt. - Sehenswert.
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Filmdaten

Originaltitel
STRATOSPHERE GIRL
Produktionsland
Niederlande/Deutschland/Italien/Schweiz/Großbritannien
Produktionsjahr
2004
Produktionsfirma
Clubdeal/Dschoint Ventschr/Motel/Palomar/Pandora/Paradis/DRS/SRG/WDR
Regie
M.X. Oberg
Buch
M.X. Oberg
Kamera
Michael Mieke
Musik
Nils Petter Molvaer
Schnitt
Peter Alderliesten
Darsteller
Chloé Winkel (Angela) · Rebecca Palmer (Rachel) · Tuva Novotny (Monika) · Tara Elders (Polly) · Linda Steinhoff (Ella)
Länge
85 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 16; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert.
Externe Links
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Heimkino

Die Extras umfassen u.a. einen Audiokommentar des Regisseurs.

Verleih DVD
REM (16:9, 1.85:1, DD5.1 engl./dt.)
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Diskussion
Gestirnter Himmel, Rummelplatz, eine Verkettung von offenen Geheimnissen und Ungleichzeitigem – der Blick auf die Stadt ist zentral fürs Kino, weil er deren Zeiterfahrung räumliche Gestalt gibt. Dennoch: Von allen möglichen Orten ist es die Stadt, die dem europäischen Kino in der Gegenwart am meisten Schwierigkeiten bereitet, da fast alle Filme auf dem Land oder in der Provinz spielen. Dieses Ausweichen vor der Großstadt mag praktische Gründe haben. Doch in der Konsequenz geht damit eine zentrale Erfahrung verloren: die des chaotischen Nebeneinanders, des Diskontinuierlichen, das sich keiner normativen Klarheit beugt. Das Enigmatische und Mythische, das man im boomenden Fantasy-Film sucht, könnte hier in alltäglichen Erfahrungen verortet werden – Geister, Fabelwesen und Magie fände man auch hier. M.X. Obergs Film „Stratospere Girl“ ist eine der wenigen Ausnahmen: Ein Film, der die Großstadterfahrung unmittelbar aufzeichnet und zugleich verwandelt in moderne Mythologie, der eine spannende Geschichte erzählt und gleichzeitig über sein Medium und das Erzählen in ihm nachdenkt. Dass der Ort dafür – wie vor Jahren in Téchinés „Weit weg“ (fd 35 597) – außerhalb Europas liegt, dürfte kein Zufall sein.

„Every line you draw, leads to something“, jede Linie, die man zeichnet, führt irgendwo hin. Das sagt Angela, Ich-Erzählerin und Hauptfigur, gleich in den ersten Minuten. Es ist eine ihrer ersten Erfahrung, die sie beim Comic-Zeichnen gemacht hat, die zugleich zum Erzählprinzip des Films wird. Angela heißt auch Engel, und wenn man sie sieht mit ihren langen blonden Haaren, die das Gesicht manchmal fast verhüllen, ihren verschlafen Blick, ihren elfengleichen Bewegungen, und wenn man sie hört, wie sie mit französischem Akzent auf English erzählt, wenn man sie beobachtet als Schulmädchen in Deutschland – dann ist offenkundig, dass diese junge Frau in dem selben Maße nicht von dieser Welt ist, wie sie andererseits zugleich das pure Konzentrat gegenwärtiger Erfahrungen ist; die Ungleichzeitigkeit und das Fragmentarische sind nichts Äußerliches mehr, sind in die Körper und die Köpfe hineingewandert. Anfangs lernt man sie in der Welt, in der sie aufwuchs, kennen, dann folgt ihr der Film auf dem Flug nach Tokio. Als Fan der japanischen Manga-Comics hat sie beschlossen, selbst Comic-Zeichnerin zu werden. In der japanischen Hauptstadt will sie das Handwerk lernen, Erfahrungen sammeln, ganz eintauchen in die geliebte fremde Kultur. Dass sie sich auch in einen Japaner verguckt hat, macht ihren Entschluss leichter. Die Parallelen zu Sofia Coppolas „Lost in Translation“ (fd 36 315), dem Idealtyp der Erzählung einer Stadt-Wirklichkeit, die zugleich zum mythischen Ort wird, zum Schauplatz von Selbsterfahrung in Träumen und Ängsten, liegen auf der Hand. Man muss dies erwähnen, weil Regisseur und Autor Oberg seinen Film lange zuvor gedreht und fertiggestellt hat, und weil es trotz allem genug Unterschiede gibt. Und – das unterstreicht die Stärke des Films: Es zeigt, dass hier etwas „in der Luft liegt“ – ein paar Grundideen, die sich gleichen: die Verlorenheit in einer hybriden Metropole, das traumwandlerische Flanieren, das an der sinnlichen Oberfläche bleibt und zugleich in die Tiefen des Existentiellen führt, die Faszination für Japan und dessen Beschreibung als etwas, was für westliche Augen schwer durchschaubar ist. Deshalb wird auch hier die Sprache der Japaner nicht übersetzt. Zugleich vermeidet Obergs Film allerdings weitgehend die Idealisierung, die im Japan-Bild von „Lost in Translation“ aufscheint.

Der erste Blick auf Tokio fällt durch ein lukenartiges Toilettenfenster: beiläufig, verstohlen, zugleich glamourös. So wird es bleiben. Man sieht durch Angelas Augen die Metropole als Dschungel abstrakter Eindrücke, als Reich der Zeichen und der Versuche, ihre Bedeutungen zu entschlüsseln. Man sieht zugleich, wie aus Eindrücken und Erlebnissen Erfahrungen werden, wie sich die Blicke in Bilder verwandeln, Fragmente zu Erzählungen werden, wie Realität entsteht, die man aus Büchern, Fotografien und Filmen kennt. Immer wieder schaut man Angela über die Schulter, sieht sie zeichnen, sieht, wie aus einem Blick ein Bild wird, und wie ihr Alltag sich in einen Roman verwandelt. Ab und an werden kurze Abschnitte der Story als Comic erzählt, in denen man verfolgen kann, wie sich die Wahrnehmungen des Mädchens in graphische Zeichen verwandeln. Je länger sie dort ist, um so mehr nähert sich ihr Stil dem der Mangas an. Angela zieht zu drei anderen europäischen Mädchen in eine WG. Ihr Geld verdient sie als Hostess in einem exklusiven Nachtclub, wo sie durch das diskrete Spiel mit den Obsessionen der Einheimischen diesen das Geld aus der Tasche zieht. Das Verhältnis zu den anderen Frauen ist eine Mischung aus Konkurrenz und pragmatischer Gelegenheitsfreundschaft. Und doch scheint ihr Leben immer auf der Kippe zu stehen. Zu stark atmet dieser Ort Macht, Geld und Paranoia. Eine Russin ist verschwunden, derem Schicksal die naseweise Angela nachspürt. Wie eine Noir-Detektivin lässt sie sich durch das Dickicht der Metropole treiben – und macht aus ihren Erlebnissen wiederum eine Comic-Geschichte, mit deren Heldin sie verschmilzt.

„I had not even thought to look for adventure, when the adventure found me.“ Deutlich dominiert eine romantische Idee den Film. Nur dass Oberg weiß, dass die wahren Abenteuer im Kopf stattfinden. So ist „Stratosphere Girl“ in seinen Passagen durch die Erzählebenen eine Reflexion über die Konstruktion von Wirklichkeit – und in seinem Nachdenken über Comic-Helden eine Reflexion darüber, was Heroismus in der Gegenwart und in den Geschichten, die dieser Gegenwart angemessen sind, heißen kann. Der Film erzählt von Parallelwelten und der Vermitteltheit aller Erfahrung. Stilistisch ähnelt das einer Traumerinnerung: Bilder voll bezaubernder Schwerelosigkeit und Sehnsucht, die in gleißendes Neonlicht zerfließen, grelle, künstliche Farben, dann wieder düstere Nacht. Ein modernes Märchen aus visuellen Assoziationen, eine Art Science- Fiction der Emotionen. Es ist eine ästhetische Erfahrungsweise, die sehr bewusst darauf verzichtet, sich auf Wahrheit auszurichten, die keine Geschichte im herkömmlichen Sinn mit Plotpoints und konventioneller Figurenzeichnung erzählt, sondern mit den Mitteln Montage und Demontage. Was Oberg interessiert – wie seine Heldin in ihren Zeichnungen, wie die Neo-Noir-Thriller von David Lynch und David Fincher –, ist das Innere des Bewusstseins. Film als Spiegel der Seele, als in letzter Konsequenz undurchdringliche Landschaft aus Passion, Gefühl und Denkstil, die sich darstellen, aber nicht restlos erklären lässt. Es geht ums Flanieren und das mit ihm verbundene Lebensgefühl: Die Suche und das Abenteuer sind die Hauptsache, auch für den Film; jeder Zweck ist nur ein Vorwand. Und: Es gibt ein Glück, das mit Einsamkeit und Melancholie vereinbar ist und damit vielleicht moderner ist, als irgend etwas anderes. Bis zum Ende ist schwer zu sagen, was Traum, was Wirklichkeit ist, doch diese Schwäche wird zur Stärke der Beobachtung: ein Triumph der Flüchtigkeit, ein Driften gegen den Strom, wobei der Zuschauer wie die Heroine im japanischen Zauberwald vor allem das finden, was sie hinein projizieren: sich selbst. Kunstvoll und einfallsreich gelingt M.X. Oberg hier vieles auf einmal: Japan- Essay und Nachtstück, Detektivgeschichte und eine Traumnovelle. Ein großer Film, einer der besten deutschen seit langem.

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