Drama | Schweiz 2005 | 123 Minuten

Regie: Fredi M. Murer

Ein hochbegabter Junge, dessen Karriere als Pianist von seiner ehrgeizigen Mutter forciert wird, findet eine kindgerechte Rückzugsmöglichkeit bei seinem erdverbundenen Großvater, der auch noch zu ihm hält, als er durch einen Sturz vom Balkon zum "normalen" Kind wird. Die mit märchenhaften Untertönen konventionell, aber wirkungsvoll und anrührend erzählte Geschichte einer Menschwerdung mit geschliffenen Dialogen und eindrucksvollen schauspielerischen Leistungen. Eine Liebeserklärung an die Kindheit und die Musik. (auch O.m.d.U.) - Sehenswert ab 12.
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Filmdaten

Originaltitel
VITUS
Produktionsland
Schweiz
Produktionsjahr
2005
Produktionsfirma
Vitusfilm
Regie
Fredi M. Murer
Buch
Peter Luisi · Fredi M. Murer · Lukas B. Suter
Kamera
Pio Corradi
Musik
Mario Beretta
Schnitt
Myriam Flury
Darsteller
Teo Gheorghiu (Vitus) · Bruno Ganz (Großvater) · Julika Jenkins (Mutter) · Urs Jucker (Vater) · Eleni Haupt (Luisa)
Länge
123 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 0; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 12.
Genre
Drama
Externe Links
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Heimkino

Die Edition (2 DVDs) enthält u.a. das ausführliche "Making of" Die Vitusmacher (von Rolf Lyssy, 54 min.) sowie ein Feature mit im Film nicht verwendeten Szenen (9 Min.). Die Edition ist mit dem Silberling 2007 ausgezeichnet.

Verleih DVD
SchwarzWeiss (16:9, 1.78:1, DD2.0 Schweizerdeutsch/dt..)
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Diskussion
Er ist viel zu großartig, um wahr zu sein: ein Großvater wie aus dem Bilderbuch, einer, den Fredi M. Murer erst erfinden musste, um ihn dem Schauspieler Bruno Ganz auf den Leib zu schreiben. So ein Großvater hat noch Träume, will hoch hinaus und die Welt von oben sehen. Schon als kleiner Bub wollte der Großvater Pilot werden, dann aber wurde er Schreiner. Auf dem festen Boden der Tatsachen stehend, hat er einen guten Blick auf die Sicht des Alltäglichen und auf ein gesundes Mittelmaß – ein eigensinniger, kantiger, charmanter Mann, der nie ohne Schlapphut aus dem Haus geht. Mit seiner praktisch veranlagten Erdverbundenheit steht der Alte im krassen Gegensatz zu seinem Enkel Vitus. Doch die beiden verstehen sich und träumen zusammen vom Fliegen. Vitus ist ein Überflieger; der zwölfjährige Schüler macht Träume wahr, von denen andere Menschen ihr Leben lang vergebens träumen, davon nicht einmal zu träumen wagen. Er ist fast zu großartig, um wahr zu sein – ein Wunderkind, das in selbstgebastelten Ikarus-Flügeln über die Wiese rennt, Klavier wie ein junger Gott spielt und schneller rechnet, als es ein handelsüblicher Taschenrechner tut. Intellektuelle Höhenflüge sind für Vitus Kinderspiele. Sich aber gleichaltrige Freunde zu machen, den ständig steigenden Ansprüchen seiner Umgebung gerecht zu werden; das sind Schwierigkeiten, die sich mit der Zeit vor ihm zu unüberwindbaren Hindernissen auftürmen. Insbesondere Vitus' Mutter forciert die Pianisten- und Schulkarriere ihres einzigen Sohnes, während der Vater die Fortschritte seines Sprosses zwar Schultern klopfend anerkennt, aber zu sehr mit der eigenen Karriere beschäftigt ist. Vitus lernt, dass er sich sein Leben um vieles leichter macht, wenn er sich in die engen Kategorien der Durchschnittswelt einfügt. Ikarus flog ins Licht, verbrannte sich die Flügel und stürzte tief. Vitus tut es ihm nach. Mit dem Sprung vom Balkon macht er den Schritt in ein konfektioniertes Leben, entwickelt sich scheinbar zu einem „normalen“ Kind. Was den Jungen schließlich rettet, ist die fürsorgliche Liebe seines Großvaters, die Gewissheit, dass dieser an ihn glaubt. Den Tag, an dem Vitus seinen Triumph feiert, filmte Murer in der Zürcher Tonhalle zu Schumanns Klavierkonzert a-Moll, gespielt von Vitus bzw. dem jungen Hauptdarsteller und Pianisten Teo Gheorghiu, begleitet vom Zürcher Kammerorchester. Gefunden hat der Regisseur seinen Meisterschüler wie die berühmte Nadel im Heuhaufen. Nach unzähligen Castings entdeckte er Teo an der Purcell-School in London, einer Schule für musikalisch hochbegabte Kinder. Der Sohn rumänischstämmiger Eltern, der im Zürcher Oberland aufgewachsen ist, verbringt nur noch seine knapp bemessenen Ferien in der Schweiz. Der 13-Jährige übt vier Stunden am Tag und möchte Konzertpianist werden. Nebst der Besetzung dieses Ausnahmetalents setzte Murer auch sonst filmisch zum Hochsprung an. „Vitus“ erzählt aus einer herkömmlichen Perspektive und mit klassischen Stilmitteln eine außergewöhnliche Geschichte, ist laut eigener Aussage des Regisseurs ein hundertprozentiger „Murer-Film“ und versteht sich nicht weniger als eine Geschichte über eine Menschwerdung; eine Parabel über unser virtuelles, globalvernetztes Zeitalter, zugleich eine Liebeserklärung an die Kindheit und die Musik. Als all dies kann „Vitus“ auch gelesen werden; dank des durchdachten, schlüssigen Drehbuchs, geschliffener Dialekt-Dialoge und wunderbarer Schauspielerleistungen. Die Montage gliedert die Bilder in Sequenzen von behäbiger musikalischer Qualität. Aber all dies ist auch ein bisschen zu viel des Guten. Weniger wäre mehr gewesen, vor allem weniger an Metaphern über das Fliegen, die in ihrer Geballtheit an lästige Mückenschwärme erinnern. Auch bei der Figur des Großvaters wird dick aufgetragen – eben eine Märchenfigur, die indes jedem Kind zu wünschen wäre. Mit so einem Prachtexemplar zur Seite gelingt der Absprung ins Leben. Was danach kommt, bleibt ungeahnt, und auch der Film lässt es offen.
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