Und wenn sie nicht gestorben sind... Die Kinder von Golzow

Dokumentarfilm | Deutschland 2006 | 278 Minuten

Regie: Barbara Junge

Barbara und Winfried Junge, die seit 1961 Kinder aus Golzow, einem kleinen Dorf im Oderbruch, mit der Kamera begleiten, legen hier den ersten Teil ihres Abschlussfilms vor. Erzählt werden fünf Biografien, wobei zwei der Befragten schon Anfang der 1980er-Jahre aus dem Projekt ausstiegen. Das spannendste Kapitel des Dokumentarfilms ist das Porträt eines Mannes, der als SED-Genosse und Kampfgruppenkommandeur gezeigt wird, wobei spannende, sonst nicht festgehaltene Momente aus dem Innenleben der DDR zu sehen sind. Am erregendsten wirkt der Film immer dann, wenn er die Korrespondenz von persönlichen Erfahrungen und gesellschaftlichen Entwicklungen erfasst. - Ab 14.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2006
Produktionsfirma
a jour Film- & Fernsehprod./DEFA-Stiftung/rbb
Regie
Barbara Junge · Winfried Junge
Buch
Barbara Junge · Winfried Junge
Kamera
Hans-Eberhard Leupold · Harald Klix
Musik
Gerhard Rosenfeld
Länge
278 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Ab 14.
Genre
Dokumentarfilm
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Diskussion
So recht glauben mag man es kaum, dass Winfried und Barbara Junge ihre Golzow-Saga tatsächlich beenden wollen. Zu sehr sind sie mit ihrer seit 45 Jahren geführten Langzeitdokumentation verbunden, zu sehr ist das Projekt mit ihrem eigenen Leben verschmolzen, als dass die Fäden so einfach abgeschnitten werden könnten. So ist „Und wenn sie nicht gestorben sind ...“ auch nicht ganz der ursprünglich annoncierte Abschlussfilm, sondern nur ein Teil davon, gewissermaßen ein Abschied auf Raten. Zur Zeit arbeiten die Junges an der Fortsetzung, die den Titel „... dann leben sie noch heute“ tragen soll. Dann wären jene „Kinder von Golzow“, die wenige Tage nach dem Mauerbau im August 1961 zum ersten Mal vor Kameras standen, komplett im Zyklus vertreten. Jedenfalls so lange sie selbst bereit waren, in Junges Projekt mitzuwirken. Nicht alle wollten das. „Und wenn sie nicht gestorben sind ...“ enthält auch zwei frühzeitig abgebrochene Porträts, das der Elektronikfacharbeiterin und Jugendfunktionärin Ilona und das der Bauingenieurin Petra, die sich bereits Anfang der 1980er-Jahre aus dem Opus verabschiedeten. Da sie offensichtlich nicht bereit waren, ihr Leben von heute aus noch einmal vor der Kamera zu resümieren, belässt es Junge bei den alten Aufnahmen und beweist damit seinen Mut zur Lücke. Er dokumentiert zugleich, wie sehr ihn der Ausstieg der beiden damals getroffen haben muss; anders ist sein etwas penetrantes Nachbohren, warum sie denn aufhören wollten, nicht zu erklären. Nachtragend aber ist Junge nicht: Immerhin zitiert er Ilonas Antwort auf seine Frage, wie sie sich am letzten Drehtag fühle: „Sehr schön.“ Er verschweigt auch nicht, dass sich die einstige Vorzeigeschülerin Petra, die sich schon früh zu verweigern begann, schließlich mit einem kühlen Telegramm vom Regisseur trennte: „Ich lege auf weitere Dreharbeiten keinen Wert.“ Interessanter sind naturgemäß die bis heute, also über den Wende-Bruch hinaus fortgeführten Kapitel. Drei von fünf einstigen Golzow-Kindern runden ihre Porträts mit aktuellen Schlussworten ab. Da ist Jürgen, der Maler lernte und jetzt als Staplerfahrer arbeitet. Den ehemaligen Landmaschinenschlosser Christian hat es inzwischen in die Kreditanstalt für Wiederaufbau nach Berlin verschlagen, wo er als Haustechniker tätig ist und davon spricht, dass er sich mit „Anpassen und Umpassen“ nie schwer getan habe. Das längste und spannendste Porträt, das rund die Hälfte des Films einnimmt, gilt Winfried, einem Ingenieur für elektronischen Gerätebau, der von seinem Schreibtisch im VEB Zellstoffwerk Gröditz direkt auf das „kleine Flüsschen, in das wir unsere Abwässer ’reinleiten“, blickt. Diese Szene wäre in der DDR vermutlich nie veröffentlicht worden, ebenso wie jene lange Passage einer SED-Betriebsversammlung, in der Winfrieds Genossen über die Löschung seiner Parteistrafe diskutierten: Winfried hatte bei der Einstellung „vergessen“ zu sagen, dass er im Studium gar nicht bis zum Diplom gekommen war. Das Tribunal, eine Abfolge hilfloser, ritualisierter Reden, fand statt, als Gorbatschows Wort von der Perestroika schon in aller Munde war und es längst um mehr ging als um kleine Sünder. Auf Junges Frage, welche Grunderfahrung er aus der Parteisitzung mitnehme, hatte der Delinquent geantwortet: „Dass man sich im Leben vorsichtig bewegen muss.“ Im November 1989 bewegte sich der Kampfgruppenkommandeur dann als einer der Ersten nach West-Berlin – eine Sequenz, die die Junges mit einer der seltenen dissonanten Musiken ihres verstorbenen Komponisten Gerhard Rosenfeld unterlegen. Heute lebt Winfried arbeitslos in Bayern, reist mit seiner neuen (westdeutschen) Frau durch die Welt und wundert sich, dass es sich ein Land leisten kann, Leute schon mit 50 aufs Abstellgleis zu schieben. Genau solche aus den konkreten Lebenswegen gefilterte Erkenntnisse über die Korrespondenz zwischen dem Einzelnen und der Gesellschaft, dem Privaten und dem Öffentlichen, machen die Stärke des Films aus. Manchmal sprechen schnell hingeworfene Sätze Bände, etwa wenn Jürgens Frau auf die Frage, ob sie auch einen Ein-Euro-Job annehmen würde, rundheraus antwortet: „Nee, da verdienen ja die Polen mehr.“ Wenn Junge seine Gesprächspartner aber auffordert, ihre Meinung zur großen Politik kundzutun („Hätte man die DDR reformieren können?“), bleibt ihnen oft nur ein Schulterzucken: „Weeß ick jetzt ooch nich.“ In solchen Momenten ahnt man, dass der Interviewer sein Gegenüber mitunter überforderte, auch auf Bekenntnisse drängte, die eine gewisse erzieherische Funktion erfüllen sollten. Einmal schweigt Petra, die das sehr genau spürt, lange in die Kamera hinein, bis sie mit dem Satz reagiert: „Das (von Dir Erwartete, R.S.) sag‘ ich jetzt nicht.“ Dass auch diese Szene im Film enthalten ist, spricht für Junges Souveränität. Der filmische Rahmen wirkt indes etwas klein. In den Prolog Ausschnitte aus einer Rede des brandenburgischen Ministerpräsidenten Matthias Platzeck zum 60. Jahrestag der Schlacht um die Seelower Höhen einzuschneiden, rückt das Unternehmen sehr an Tagesnachrichten und scheint etwas anbiedernd. Am Schluss zeigt Junge die Golzower Schule, die 1961 neu gebaut worden war und nun mangels Kindern geschlossen wird. Das wäre an sich ein beeindruckendes Finale, doch konnte es sich Junge nicht verkneifen, mit seiner Kamera auch in das ihm und der Golzow-Reihe gewidmete Museum in einem der Klassenräume zu gehen. Mit einem solchen Selbstbezug aber macht er den Film etwas kleiner als er ist.
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