Drawing Restraint 9

- | USA/Japan 2005 | 135 Minuten

Regie: Matthew Barney

Während zwei Gäste im Innern eines riesigen Walfangschiffs rituellen Waschungen unterzogen werden und einen archaischen Hochzeitsbrauch erleben, verändert sich eine Vaseline-Skulptur, die auf Deck des Schiffs installiert ist, unter dem Einfluss der Witterungsverhältnisse und flutet schließlich das Innere. Der Multimedia-Künstler Matthew Barney entfesselt in Fortführung eines langjährigen experimentellen Projekts einen anspielungsreichen, symbolträchtigen Bilderrausch, der das Schöne im Bewusstsein der Vergänglichkeit feiert. Sein Film verweigert sich dabei herkömmlichen Erzählweisen und bietet in seiner eigenwilligen Ikonografie zahlreiche Projektions- und Assoziationsflächen. (O.m.d.U.) - Ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
DRAWING RESTRAINT 9
Produktionsland
USA/Japan
Produktionsjahr
2005
Produktionsfirma
Restraint
Regie
Matthew Barney
Buch
Matthew Barney
Kamera
Peter Strietmann
Musik
Björk
Schnitt
Luis Alvarez y Alvarez · Matthew Barney · Peter Strietmann · Christoph Seguine
Darsteller
Björk · Matthew Barney
Länge
135 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
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Diskussion
Man kann diesen Film durchaus als heillos romantische Liebeserklärung verstehen, mit der Matthew Barney seiner Frau, der Sängerin Björk, sein Herz zu Füßen legt. Aber natürlich ist „Drawing Restraint 9“ viel mehr als das: Die Diskurse, die der Film bedient – vom ewigen Kreislauf der Natur über das Wesen des kreativen Schöpfungsaktes bis zur japanischen Walfangtradition oder der Verknüpfung von Eros und Tod, um nur einige zu nennen –, sind ohnehin zu vielfältig, um sie unter einen einzigen griffigen Ausdruck zu fassen. Auch erlaubt Barneys komplexes Zeichensystem kaum eine restlose Entschlüsselung, sondern gestattet in seiner faszinierenden Uneindeutigkeit lediglich Annäherungen. Der neueste Bilderrausch des Multimediakünstlers, der sich insgesamt etwas zugänglicher, da narrativer und geschlossener erweist als Barneys epischer „Cremaster Cycle“ (fd 37 317), lässt sich durchaus in Form grob skizzierter Handlungsstränge beschreiben. Der eine spielt auf, der andere unter Deck der „Nisshin Maru“, jenem Fabrikschiff, das als einziges weltweit für den Walfang eingesetzt wird und das Mutterschiff der japanischen Walfangflotte darstellt. Matthew Barney und Björk verkörpern zwei Gäste, die getrennt voneinander auf die „Nisshin Maru“ gebracht und tief im Innern des riesigen Schiffskörpers nach den Riten des Shintoismus rasiert bzw. gebadet werden. Anschließend kleidet man die beiden Besucher nach Art eines archaischen Hochzeitsbrauches mit Fellen, Häuten und Muscheln ein. Derart vorbereitet, dürfen Barney und Björk an einer Teezeremonie teilnehmen, bei der die einzigen Dialoge des ganzen Films gesprochen und die Gäste über Bedeutung und Geschichte des Schiffs aufgeklärt werden. Dabei weisen bereits der Name und die Seriennummer des Fabrikschiffs auf Barneys zentrale Themen der endlosen Transformation und des ewigen Lebenskreislaufs hin: Während „Nisshin Maru“ „neu“ bedeutet, steht die Zahl 4 im Land der aufgehenden Sonne für den Tod. Während der Teezeremonie fällt auch der Begriff des „Mono no aware“, der das Angerührtsein durch das Schöne im Bewusstsein der Vergänglichkeit aller Dinge bezeichnet und darin direkt zu den beeindruckenden, die stete Metamorphose visualisierenden Bildwelten Barneys führt. Auf Deck steht unterdessen eine Vaseline-Skulptur namens „The Field“ und deren Transformationen im Mittelpunkt. Vor dem Ablegen war die flüssige Vaseline – die klebrige weiße Masse ist für Barney das, was für Beuys das Fett war – in einer bild- und klangmächtigen Parade an Bord gebracht und in ein offenes Behältnis gepumpt worden, dessen Form bereits in „Cremaster Cycle“ auftauchte und eines von Barneys elementaren Themen symbolisiert: Die länglich-ovale Rundform, die von einem Rechteck in zwei gleiche Teile geschnitten wird, steht in der Kosmologie des Künstlers für den Körper, auf den Beschränkung und Zwang, also der titelgebende „Restraint“ einwirken. Damit führt Barney ein experimentelles Projekt fort, das er 1987 initiierte: Indem er dem Akt des Malens Hindernisse entgegensetzte, versuchte Barney in Atelier-Performances die Transzendenz physischer Einschränkungen und das Wesen künstlerischer Schaffensprozesse zu erforschen. In „Drawing Restraint 9“, der neunten Arbeit der Projektreihe, exerziert Barney diese Idee an seiner geleeartigen Skulptur durch, die ihre Konsistenz, Farbe und Oberflächenstruktur in Reaktion auf die Witterungsverhältnisse der hohen See beständig verändert und deren äußere Begrenzungen schließlich entfernt werden, woraufhin ihre Gestalt zerfällt und langsam ins Schiffsinnere flutet. In dieser Auflösung der Körper kulminiert auch der Plot, der sich in der klaustrophobisch engen, sich nach und nach mit Vaseline füllenden Teekammer abspielt: Hier findet die „Hochzeit“, totale Verschmelzung und Metamorphose von Barney und Björk statt, wenn sich die ineinander verschlungenen Brautleute in Walfangmanier gegenseitig Füße und Beine filetieren, die abgetrennten Körperteile nicht mehr zuordnen lassen und stattdessen Schwanzflossen in der milchigen Flüssigkeit erkennbar werden. Folgerichtig sieht man im Schlussbild für den Bruchteil einer Sekunde zwei Wale hinter dem Fabrikschiff schwimmen, die sich auf gleißende Eisberge zubewegen: Das Paar, das in seiner archaischen Gewandung die ewigen Gesetze der Liebe repräsentiert, hat in ironischer Umkehrung der realen Produktionsabläufe beim Walfang den Körper des Fabrikschiffs durchlaufen, um ihn nun in Meeressäuger verwandelt wieder zu verlassen. Die Liebenden, die bereits während ihrer Anreise zur „Nisshin Maru“ in dicken Pelzmänteln bzw. mit Fell verbrämten Umhängen Landtiere zu verkörpern schienen, zeichnen mit ihrer Metamorphose auch die graduelle Wandlung nach, in der sich die Vorläufer der Wale im Lauf der Evolution vom Landsäugetier zum Meerlebewesen entwickelten. Der Zufall will es, dass die deutsche Kinoauswertung des Films mit scharfen internationalen Protesten gegen das neuerliche Auslaufen der japanischen Walfangflotte zusammenfällt, die das Verbot des kommerziellen Walfangs seit 20 Jahren unter dem Deckmantel von Forschung und Wissenschaft dreist umgeht. Unter diesem Aspekt vermeint man in dem stets als „unpolitisch“ titulierten Barneyschen Werk schließlich sogar eine (umwelt-)politische Ebene zu erkennen. Diese aktuelle Folie fügt dem schillernden „Drawing Restraint 9“ jedoch nur eine weitere Facette hinzu, die neben dem an Naturreligionen und Hinduismus erinnernden zyklischen Weltbild, den mythologischen, kulturgeschichtlichen, psychoanalytischen und kunstästhetischen Ebenen des enigmatischen Werks eine nachgeordnete Rolle einnimmt. „Drawing Restraint 9“ verfügt zwar nicht über die originäre visuelle Wucht des „Cremaster Cycle“ und stolpert einige Male auch über platte Bildfindungen, etwa in der zotteligen, clownesk angemalten Figur, die man als Charon, den mythologischen Fährmann der Toten, interpretieren kann; dennoch fasziniert Barneys Kunst erneut mit ihrer selbst geschaffenen Ikonografie, die unzählige Projektions- und Assoziationsflächen eröffnet. Dass die sich herkömmlicher Narration entziehende Bildsprache ganz unterschiedliche Filme in den Köpfen der Zuschauer kreiert, macht den eigentlichen Reiz des rätselhaft schönen Werks aus. Einen passenden Gegenpart finden die Filmbilder in dem von Björk geschaffenen Soundtrack, der zwischen Melodik und disharmonisch-minimalistischen Klängen, zwischen Techno-Beats und traditionellen Formen japanischer Musik changiert – was die in drastisch überhöhten Aufnahmen vor Augen geführte Symbiose des Künstlerehepaars auch jenseits der Film-„Handlung“ zu belegen scheint.
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