Esmas Geheimnis - Grbavica

Drama | Bosnien-Herzegowina/Kroatien/Österreich/Deutschland 2006 | 95 Minuten

Regie: Jasmila Zbanic

Eine Bosniakin in einem Stadtteil Sarajevos, der während des Jugoslawien-Kriegs heiß umkämpft war, verschweigt ihrer zwölfjährigen Tochter, dass sie das Kind einer Vergewaltigung durch feindliche Soldaten ist. Erst im Vorfeld einer geplanten Klassenfahrt und unter dem Druck der Geldbeschaffung bricht die Wahrheit aus ihr heraus. Der einfühlsam inszenierte, in den Hauptrollen brillant gespielte Film beschwört die Kraft der Liebe, durch die Hass und Gewalt überwunden werden können und eine Versöhnung zwischen Feinden von einst möglich erscheint. Dabei rückt er den steinigen Weg der Wahrheitsfindung in den Mittelpunkt, durch die das Prinzip Hoffnung erst eine Chance erhält. (Kinotipp der katholischen Filmkritik, Preis der Ökumenischen Jury, Berlin 2006; auch O.m.d.U.) - Sehenswert ab 16.
Zur Filmkritik

Filmdaten

Originaltitel
GRBAVICA
Produktionsland
Bosnien-Herzegowina/Kroatien/Österreich/Deutschland
Produktionsjahr
2006
Produktionsfirma
Coop 99/Deblokada/noirfilm/Jadran Film
Regie
Jasmila Zbanic
Buch
Jasmila Zbanic
Kamera
Christine A. Maier
Musik
Enes Zlatar
Schnitt
Niki Mossböck
Darsteller
Mirjana Karanovic (Esma) · Luna Mijović (Sara) · Leon Lučev (Pelda) · Jasna Ornela Berry (Sabina) · Dejan Acimovic (Cenga)
Länge
95 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Drama
Externe Links
IMDb | TMDB | JustWatch

Heimkino

Verleih DVD
good!movies (1:1,85/16:9/Dolby Digital 2.0)
DVD kaufen

Diskussion
Sarajevos Stadtteil Grbavica wurde während des Krieges zwischen der „Jugoslawischen Volksarmee“ und der bosnisch-herzegowinischen Armee zum Schauplatz blutiger Auseinandersetzungen. Während der Besetzung des Viertels durch die serbisch-montenegrinisch dominierten Truppen kam es zu systematischen Vertreibungen, Folterungen und Vergewaltigungen. Mehr als zehn Jahre nach dem Krieg lebt hier die alleinerziehende Bosniakin Esma mit ihrer zwölfjährigen Tochter Sara. Das Mädchen wurde bei einer der Massenvergewaltigungen in einem Gefangenenlager gezeugt – eine brutale Wahrheit, vor der Esma ihre Tochter bisher geschützt hat. Stattdessen erzählt sie Sara, dass ihr Vater als „Schechid“, als Kriegsheld, gestorben sei. Mit einer entsprechenden behördlichen Bescheinigung würde Esma eine Ermäßigung für die heiß ersehnte Klassenfahrt ihrer Tochter bekommen. Um sich selbst und ihre Tochter vor den Wunden der Vergangenheit zu schützen, erfindet sie aber die Legende, dass die Leiche des Vater nie gefunden worden sei. Doch von den Mitschülern wird Sara mit misstrauischen Fragen konfrontiert, bis sie schließlich ihre Mutter zur Rede stellt. Um Sara die Teilnahme an der Reise zu ermöglichen, nimmt Emsa eine Stelle als Kellnerin in einem Nachtclub an. Nervlich ausgezehrt, bricht die Wahrheit eines Tages aus ihr heraus. Jasmila Zbanic spricht in ihrem ersten abendfüllenden Spielfilm ein Thema an, das in ihrer bosnischen Heimat in den letzten Jahren zunehmend in Vergessenheit geriet: die psychologisch wie materiell tragische Situation der im Krieg von gegnerischen Soldaten vergewaltigten Frauen. Auf der „Berlinale“ 2006 wurde „Esmas Geheimnis – Grbavica“ mit dem „Goldenen Bären“ ausgezeichnet, was einige serbische Kommentatoren veranlasste, von einer „politischen Preisvergabe“ zu sprechen. Dabei umgeht Zbanic in ihrer sensiblen psychologischen Studie jede ethnisch motivierte Etikettierung. Lediglich in der Schlüsselszene, als Esma sich ruckartig öffnet und ihre Tochter mit der Wahrheit konfrontiert, bricht im Affekt das Wort „Tschetnik“ („Bastard“) aus ihr heraus – die Bezeichnung königstreuer Nationalisten, in deren Tradition sich die serbischen Milizen der 1990er-Jahre sahen. Der Film lebt von einer unaufdringlichen Kameraführung, die Esmas Gratwanderung zwischen unterdrückter Emotion und mühsam aufrechterhaltener Distanz kongenial in Szene setzt. Ein Seelenzustand, in dem sich auch die Tochter befindet – die angesichts der Vergangenheit fast aussichtslose Suche nach menschlicher Würde beschäftigt auch die nachfolgende Generation. Damit liefert Zbanic einen tieferen Einblick in die kollektive Psyche des noch immer traumatisierten Balkans als erfolgreiche Komödien wie Danis Tanovics „No Man’s Land“ (fd 35 824) oder Pjer Zalicas „Kurzschluss“ (2003), die mit ihrem ebenso treffsicheren wie versöhnlichen schwarzen Humor den Weg für einen Dialog im Umgang mit der jüngsten Geschichte geebnet haben. In erster Line ist „Esmas Gemeimnis“ ein Schauspielerinnen-Film. Das ungewöhnliche Duo aus der erfahrenen serbischen Schauspielerin Mirjana Karanovic, die 1984 in Emir Kusturicas „Papa ist auf Dienstreise“ (fd 25 285) bekannt wurde, und der 1991 geborenen Laiendarstellerin Luna Mijovic spielt jede Nuance des zwischen Liebe und Konflikt pendelnden Mutter-Tochter-Verhältnis mit distanzierter Körpersprache. Selbst in jenen Momenten, wenn der unter der Oberfläche brodelnde Vulkan ausbricht, wird jene Theatralik vermieden, durch die ähnliche Produktionen oft unglaubwürdig werden, was vor allem ein Verdienst der vom Dokumentarfilm geprägten Zbanic ist. Ihre Inszenierung legt Wert darauf, hinter der nüchternen Fassade die Narben der Vergangenheit Schicht für Schicht abzutragen und ihre Geschichte mit detaillierter Körpersprache statt mit prätentiös inszenierter Dramatik zu erzählen. So erst wird die alltägliche „Normalität“ von Esmas Drama nachvollziehbar. Am Ende hat Esma das Geld für die Klassenfahrt zusammen. Sara fährt, ihrer Mutter nach dem Streit unbeholfen winkend, im Schulbus aus der Stadt. So haben in den 1990er-Jahren Zehntausende ihre Heimat im früheren Jugoslawien verlassen. Doch in diesem Fall ist es eine Reise mit Wiederkehr, und durch den kraftvollen Song „Sarajevo My Love“ gewinnt „Esmas Geheimnis“ auch ein nahezu euphorisches Ende, in dem das Prinzip Hoffnung um die Lehre vom steinigen, aber notwendigen Weg der Wahrheitsfindung eindrucksvoll ergänzt wird. Ein Weg, der im benachbarten Serbien, wo sich ein großer Teil der Filmemacher wie auch der Gesellschaft kritisch mit der Ära Miloševic auseinandersetzt, indes umstritten ist: Während der Vorführung von „Esmas Geheimnis“ in Belgrad kam es zu heftigen Wortgefechten, und in Banja Luka wurde die Premiere vom Kinobetreiber gleich ganz abgesagt – aus Furcht, dass sein Kino demoliert würde. Der Preisregen der „Berlinale“ – neben dem Hauptpreis erhielt „Esmas Geheimnis“ den Friedensfilmpreis und den Preis der Ökumenischen Jury – wird der kleinen, international aber gut vernetzten bosnischen Filmszene weiteren Auftrieb geben. Schön wäre es, wenn die Suche nach Wahrheit, auf der das hinter allen Wunden und inneren Konflikten doch spürbare Selbstbewusstsein aufbaut, Schule macht würde.
Kommentar verfassen

Kommentieren