Nimm dir dein Leben

- | Deutschland 2004 | 98 Minuten

Regie: Sabine Michel

Ein abgeschiedenes Dorf an der polnischen Grenze als Schauplatz einer Jugend, die sich unter verschrobenen Einheimischen mit offener Fremdenfeindlichkeit abspielt. Ein junger Pole wird erhängt aufgefunden, sein Herz schlägt aber noch, und ein Junge macht sich gemeinsam mit dessen Freundin auf die Suche nach ihm. Das dunkelromantische Gegenwartsmärchen zeugt von Eigensinn und Fabulierlust und schildert eine Welt voller Absurditäten, die dem menschlichen Irrsinn geschuldet ist. Ein versponnen-schöner Erstlingsfilm mit überzeugenden Darstellern, ruhiger Bildführung und nostalgischer Lichtsetzung. - Sehenswert ab 16.
Zur Filmkritik

Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2004
Produktionsfirma
Egoli Tossell/WDR/cine plus/Kopp Media
Regie
Sabine Michel
Buch
Thomas Wendrich
Kamera
Jürgen Jürges
Musik
Frieder Zimmermann
Schnitt
Anja Neeral
Darsteller
Sebastian Urzendowsky (Milan) · Agnieszka Grochowska (Ilonka) · Peter Kurth (Gunter Neusorge) · Eva-Maria Hagen (Annel Schoppe) · Astrid Meyerfeldt (Doris Jockel)
Länge
98 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Externe Links
IMDb | TMDB

Diskussion
Spätestens die letztjährige „Berlinale“ hat (nicht nur) mit vier sehr unterschiedlichen deutschen Wettbewerbsbeiträgen unter Beweis gestellt, dass die „Neue Welle“ deutscher Filme sich längst nicht mehr auf eine „Berliner Schule“ reduzieren lässt. Neben präzisem und wirklichkeitsmutigem Gegenwartskino lebt auch der historische Film; ebenso der dokumentarische, der komische, der romantische und der fantastische. In der deutschen Kinolandschaft hat sich ein heterogenes Gegengewicht zur mikroskopischen Realitätsnähe entwickelt, das im Idyllischen schwelgt wie Sven Taddickens „Emmas Glück“ (fd 37 744) oder ins Absurde ausschweift wie etwa Cyril Tuschis schräges Roadmovie „SommerHundeSöhne“ (fd 37 213) oder Marcus H. Rosenmüllers bizarrbayrische Komödie „Wer früher stirbt ist länger tot“ (fd 37 745). Zu den Filmen der zweiten Kategorie, die das absurde Kino in der Tradition Achternbuschs, Schlingensiefs oder Helge Schneiders mit märchenhaftem, lyrischem Erzählen verknüpfen, zählt auch Sabine Michels Regiedebüt „Nimm dir dein Leben“. Darin entwirft sie ein eigentümliches, schiefes Kinouniversum, in dem – eben wie im Märchen oder Absurden – das Außergewöhnliche als ganz selbstverständlich wahrgenommen wird. Eine Welt voller Unmöglichkeiten und Wunder, über die sich niemand wundert. Der Bauernjunge Milan (Sebastian Urzendowsky) lebt in einem kleinen Dorf mit dem sprechenden Namen „Dunkelhäuser“. Düster geht es dort zu. Milans Mutter ist tot, sein Vater (Peter Kurth) säuft, zwingt den Sohn zum Schwarzbrennen und schreckt nicht davor zurück, dessen geliebtes Kaninchen totzuschlagen, wenn der Bursche nicht pariert. Milans Großmutter (Eva-Maria Hagen) ist eine Hexe. Der Dorfarzt, ein hagerer Frankenstein mit irrem Blick, sammelt Leichenherzen in Einweckgläsern. Die Nachbarsbauern hieven ihre einzige Kuh mit dem Bagger in die Luft, um sie an der Dachrinne zu füttern. Und ihre Ehefrauen schließen Wetten darüber ab, welcher der Bauern der dümmste ist: derjenige, der seinen Bandwurm mit der Angelschnur aus dem Mund fischen möchte oder derjenige, der nur noch nackt in Gummistiefeln und mit Hut durchs Dorf stapft. Die Zeit scheint in Dunkelhäuser irgendwann in den 1950er-Jahren stehen geblieben und dennoch weitergegangen zu sein. In dem anachronistischen Brei aus Gegenwart und Vergangenheit wirken die Dorfbewohner verloren. Eingesperrt in einer Endlosschlaufe, abgeschottet von der Außenwelt. Ausgerechnet ein Wald stellt die einzige Verbindung nach draußen her. Hier am Symbolort des Unbekannten, in dem Begierde und Bedrohung aufeinandertreffen, werden immer wieder Polen aus der wahren Welt ins unwirtliche Deutschland gespült. Dunkelhäuser liegt also irgendwo an der polnischen Grenze. Und die Ressentiments, ja Feindseligkeiten, mit denen die Dörfler den polnischen Nachbarn begegnen, lassen die Geschichte vorübergehend gar nicht mehr so unrealistisch wirken. Allerdings verlieren sich die konkreten gesellschaftlichen Anspielungen bald schon wieder im üppigen, poetisch-absurden Dickicht. Krystoph, ein junger Pole taucht auf; im Anzug und mit dem Bild einer Frau, die er liebt und die ihn verlassen hat. Milan, der einzige im Dorf, der halbwegs normal erscheint und den konsequenterweise alle anderen für zurückgeblieben halten, begegnet dem Fremden im Wald und führt ihn zum Dorf. Bald danach wird der Pole erhängt in einer Scheune aufgefunden. Die Bauern schaffen ihn heimlich zum „Weißkittel“, der zwar den Tod feststellt, aber auch bemerkt, dass das Herz des Toten erstaunlicherweise noch immer schlägt. Es dauert nicht lange, bis Ilonka, die Frau auf dem Foto, auftaucht. Wieder ist es Milan, der ihr im Wald begegnet. Und wie ihr ehemaliger Freund zuvor, fragt auch sie „Ist das Deutschland?“ Eine Frage, die programmatisch klingt und für einen kurzen Moment Schlingensiefs fratzenhaftes Abbild der wiedervereinigten Republik in „Das deutsche Kettensägenmassaker“ (fd 28 714) aufscheinen lässt, sich aber gleich darauf im Allgemeinmenschlichen, Dunkelromantischen verflüchtigt. Um Deutschland geht es allenfalls in zweiter Linie. Vor allem geht es um die Liebe und deren märchenhafte, erlösende Kraft. Milan und Ilonka machen sich gemeinsam auf die Suche nach Krystoph. Milan verliebt sich, und alles wartet auf den magischen Kuss, der ein ganzes Dorf aus seinem Totenschlaf wecken soll. Trotz dieses abstrus anmutenden Plots droht „Nimm dir dein Leben“ nie auszuufern. Dass der Film bei aller Versponnenheit stets in der Spur bleibt, dürfte zum einen am ausgezeichneten Skript von Thomas Wendrich („Deutscher Drehbuchpreis“) liegen. Zum anderen aber auch daran, dass die ehemalige „Konrad Wolf“ Schülerin Michel bei ihrem Debüt mit beachtlicher formaler Routine zu Werke geht. Wobei sie von einer hochkarätigen Crew vor und hinter der Kamera unterstützt wird. Kameramann Jürgen Jürges, der schon mit Fassbinder, Wenders und Haneke zusammengearbeitet hat, fängt das irritierende, unkonventionelle Handlungsgeschehen mit einer steten, beruhigenden Bildführung und nostalgischer Lichtsetzung auf. Anja Neraals Montage setzt den eher gemächlichen Rhythmus fort. Und eine vorzügliche Besetzung, von der deutschen Nachwuchshoffnung Sebastian Urzendowsky („PingPong“) bis zum ehemaligen DEFA-Star Eva-Maria Hagen, trägt ihren Teil dazu bei, dass Michels Erstling bei aller erzählerischen Verspieltheit erstaunlich reif wirkt. Atmosphärisch heißt das: lyrisch statt rotzig. „Nimm dir dein Leben“ packt den menschlichen Irrsinn in cineastische Traumwatte. Die Realitätsbrüche verlieren so an Schärfe und Kanten. Der spröde Charme, der Achternbuschs filmische Amokläufe noch prägte, fällt dem zum Opfer. Das, was dort ungestüm, wuchtig, provokant daherkam, erscheint hier flaumig inszeniert, durcharrangiert. Das Ergebnis ist ein zart-absurdes modernes Märchen. Zu brav, um richtig unter die Haut, und zu distanziert, um ans Herz zu gehen. Vielleicht ist es das, was diesem außergewöhnlichen, guten, einfallsreichen und absolut sehenswerten Film am Ende zu einem herausragenden fehlt.
Kommentar verfassen

Kommentieren