Sieben Mulden und eine Leiche

Dokumentarfilm | Schweiz 2006 | 83 Minuten

Regie: Thomas Haemmerli

Ein Schweizer Kulturschaffender erhält die Nachricht vom Tod seiner Mutter, zu der der Kontakt längst abgerissen war. Nun muss er gemeinsam mit seinem Bruder in der völlig zugemüllten Wohnung der Toten für Ordnung sorgen, dokumentiert das Leerräumen mit der Kamera und arbeitet dabei die Lebensgeschichte seiner Mutter auf. Ein betont respektloser, ebenso erschreckender wie faszinierender Film, der am Einzelschicksal von der "Vergletscherung" einer Gesellschaft erzählt und sich mit emotionaler Distanz der Katastrophenbiografie eines "Messie" zuwendet. - Ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
SIEBEN MULDEN UND EINE LEICHE
Produktionsland
Schweiz
Produktionsjahr
2006
Produktionsfirma
ican films
Regie
Thomas Haemmerli
Buch
Thomas Haemmerli
Kamera
Thomas Haemmerli · Ariane Kessissoglou · Erik Haemmerli
Musik
Adrian Frutiger · Alexander T. Fähndrich
Schnitt
Daniel Cherbuin
Länge
83 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Dokumentarfilm
Externe Links
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Heimkino

Verleih DVD
Neue Visionen/Indigo (16:9/Deutsch DD 5.1/DD 2.0/Engl./Schw.)
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Diskussion
An seinem 40. Geburtstag erreicht den Schweizer Kulturschaffenden Thomas Haemmerli die Nachricht vom Tod seiner Mutter Brünhilde. Beim Öffnen der Wohnung werden Haemmerli und sein Bruder Erik mit einem Chaos konfrontiert, das ihre Befürchtungen auf groteske Weise übertrifft. Brünhilde Haemmerli war das, was man neudeutsch als „Messie“ bezeichnet. Sie konnte sich nicht von Dingen trennen und lebte in einer Blase aus Müll und Erinnerungen, die zu Müll geworden waren. Zudem hatte die Leiche schon einige Zeit in der Wohnung gelegen, weshalb erst ein Fachmann hinzugezogen werden muss, um die Reste der Mutter mit einem Spachtel vom Fußboden der Wohnung zu kratzen. Thomas Haemmerli hat die Kamera angeschaltet, um sich vor dieser bizarren Erfahrung zu schützen. Es kostete ihn und seinen Bruder einen Monat, um die Wohnung leer zu räumen. Sieben Mulden, das sind offene Stahlcontainer, braucht es, bis der ganze Dreck abtransportiert ist. Bewohnbar wird die Wohnung trotzdem wohl nie mehr, nicht nur wegen des Leichengestanks. Wahrscheinlich wäre die Räumungsaktion schneller verlaufen, wenn die Brüder die Gelegenheit nicht dazu genutzt hätten, sich beim Durchwühlen des Mülls zu einer Rekonstruktion der mütterlichen Biografie und einer packenden Familiengeschichte inspirieren zu lassen. So erzählt „Sieben Mulden und eine Leiche“ retrospektiv, anekdotisch und mit einem teilweise grimmigen Sarkasmus vom Leben Brünhilde Haemmerlis, die nach einer Ausbildung zur Dolmetscherin und der Heirat mit einem erfolgreichen Anwalt Mitglied der feinen Zürcher Gesellschaft wurde. Die Weihnachtsferien verbrachte man in St. Moritz, in der Nähe von St. Tropez besaß das Paar ein Ferienhaus, zum Bekanntenkreis zählte der frühere UN-Generalsekretär Kofi Annan. Doch dann geriet die Ehe in eine Krise und wurde 1973 geschieden; es folgten jahrzehntelange erbitterte juristische Auseinandersetzungen. Brünhilde Haemmerli bekam einen Teil ihres Lebensunterhalts von den Söhnen, nachdem ihr Ex-Mann starb. Bis ins hohe Alter blieb die engagierte Tierschützerin höchst reiselustig. In Griechenland verfügte sie über ein Ferienhaus, in Zürich mietete sie zahlreiche Keller an, die gleichfalls voller Müll stecken. Auf die Brüder Erik und Thomas warten noch einige Überraschungen. Ein Beitrag über das noch relativ junge Phänomen der so genannten „Messies“ ist dieser Film nur am Rande, wenngleich dies sein unappetitlichster Aspekt ist. Ungleich interessanter sind die Abgründe, die sich hinter der geputzten bürgerlichen Fassade auftun und die Biografie der Protagonistin weit übersteigen. So hinterließ auch Brünhildes Mutter, deren Lebensgeschichte erstaunliche Parallelen aufweist, nach ihrem Tod eine zugemüllte Wohnung. Ein Buch über das „Messietum“ trägt den Titel „Im Chaos werden Rosen blühen“, was in gewisser Weise auch auf Brünhildes Wohnung zutrifft, die eben auch all das Material bereithält, aus dem Thomas Haemmerli seinen Film geschöpft hat. Dessen Radikalität ist nicht zu unterschätzen, denn die Art und Weise, wie hier Leben und Tod der Mutter behandelt werden, ist von befreiender Kaltschnäuzigkeit und Pietätlosigkeit. Mancher erinnert sich vielleicht noch daran, dass sich die Jugendrevolte in der Schweiz zu Beginn der 1980er-Jahre gegen die „Vergletscherung“ des Gemeinwesens gerichtet hatte; in der Familienbiografie der Haemmerlis würde man fündig, wollte man dieser Spur nachgehen. Viele hätten über das Material, das Haemmerli hier ausbreitet, sicher den Mantel des Schweigens gebreitet, aber die emotionale Distanz zur eigenen Familie und insbesondere zur Mutter haben „Sieben Mulden und eine Leiche“ erst möglich gemacht. Jetzt stinkt es zum Himmel, und das Lachen bleibt einem im Halse stecken angesichts dieser Katastrophenbiografie, die das Aufbahren all der schmerzhaften Erinnerungen noch rätselhafter macht und masochistische Züge zu tragen scheint. Alexander Kluge hat die bürgerliche Kleinfamilie einmal als einen „Terrorzusammenhang“ bezeichnet. Dieser großartige, erschreckende, faszinierende Film gibt ihm auf ganzer Linie Recht. Die Brüder Haemmerli zeigen vor laufender Kamera, wie man diesen Terror exorziert, indem man ihn ein weiteres Mal durcharbeitet. Wer zuletzt lacht, lacht am besten! Das Schönste daran ist, dass Haemmerlis Bruder Erik ebenfalls eine Tochter hat. Fortsetzung folgt, in 40 Jahren, vielleicht.
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