Rubljovka - Straße zur Glückseligkeit

Dokumentarfilm | Deutschland 2006/07 | 97 Minuten

Regie: Irene Langemann

Der Film porträtiert einige Bewohner der Rubljovka, einer Straße, die aus dem Zentrum Moskaus in die Provinz führt. Zu den hier lebenden Künstlern, Wissenschaftlern und Politikern stießen in den letzten Jahren zunehmend neureiche Russen, die die Alteingesessenen aus ihren Häusern vertreiben. Ungeachtet zahlreicher Behinderungen beim Drehen gelang es der Regisseurin, dank der pointierten Auswahl ihrer Gesprächspartner und der konfrontativen Montage, den derzeitigen politischen und vor allem moralischen Zustand Russlands wie unter einem Brennglas sichtbar zu machen. Ein Dokumentarfilm, aus dessen unaufgeregten Beobachtungen Trauer und Zorn erwachsen. (O.m.d.U.) - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2006/07
Produktionsfirma
Lichtfilm/RBB/WDR/arte
Regie
Irene Langemann
Buch
Irene Langemann
Kamera
Maxim Tarasjugin
Musik
Michael Langemann
Schnitt
Kawe Vakil
Länge
97 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 0; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Dokumentarfilm
Externe Links
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Heimkino

Verleih DVD
GMfilms (16:9, 1.78:1, DD2.0 russ.)
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Diskussion
Volker Koepp hat für seine Art, Dokumentarfilme zu drehen, den schönen Satz gefunden: „Ich zeige nur. Ich sage nicht, was es bedeutet.“ Diese Sentenz trifft auch auf „Rubljovka – Straße zur Glückseligkeit” zu, den neuen Film von Irene Langemann. Die in der Sowjetunion geborene, 1990 nach Deutschland ausgewanderte Regisseurin zeigt das Leben an einer Straße, die aus Moskau in die Provinz führt. Eine Magistrale inmitten der Natur, für die schon Iwan Grosny angeordnet hatte, keine Industrieansiedlungen zuzulassen. Hier lebten Zaren und Parteifunktionäre, Stalin und Budjonny wurden bei Ausritten gesichtet. Auch heute ist die Rubljovka nicht irgendeine Ausfallstraße, sondern macht wie unter einem Brennglas den Zustand Russlands deutlich. Wie kaum irgendwo anders im Riesenreich prallen hier die Gegensätze aufeinander, offenbart sich der politische und moralische Status quo. Die pointierte Auswahl ihrer Gesprächspartner und die konfrontierende Montage von Wirklichkeitspartikeln erlaubten es Irene Langemann, auf einen Off-Kommentar zu verzichten. Das dokumentarische Material, klug strukturiert, spricht für sich selbst. Dabei mussten manche Szenen, für die Polizei, Staatssicherheit und Kommune keine Drehgenehmigungen erteilt hatten, mit versteckter Kamera gefilmt werden. So etwa die tägliche Fahrt des Regierungskonvois von Präsident Putin, dessen Privatgrundstück ebenfalls an der Rubljovka liegt. „Es ist ungeheuer beängstigend“, sagt eine junge Frau, „diese Polizisten mit Knüppeln, die brüllen und auf die Autodächer schlagen.“ Putin selbst ist im Film durch einige TV-Mitschnitte präsent: Irene Langemann hat unter anderem seine Äußerungen über die Journalistin Anna Politkowskaja am Abend ihrer Ermordung eingeschnitten, die das Bild eines zynischen Machtmenschen unterstreichen. Überhaupt steht die Regisseurin den Zuständen, die sich unter Putins Führung in Russland ausprägten oder verfestigten, äußerst kritisch gegenüber. Aus ihren Beobachtungen erwachsen Trauer und verhaltener Zorn. So dokumentiert sie die Furcht alteingesessener Bewohner an der Rubljovka, die aus ihren Holzhäusern vertrieben werden, damit an derselben Stelle millionenteure Palais für die neuen Reichen entstehen können. Wer nicht freiwillig geht, dem wird, unter dem Blick korrupter Polizisten, das Dach angezündet. Irene Langemann schneidet von einer alten Frau, die mangels Wasserleitung aus einem Brunnen Wasser holt, auf den fünfzehn Meter langen Swimmingpool einer in unmittelbarer Nachbarschaft neu entstandenen Villa. Dass die Greisin dennoch auf Putin schwört und ihm viele weitere Amtszeiten wünscht, wirkt zunächst verstörend, ist bei weiterem Nachdenken aber auch wieder logisch: Die Hoffnung auf Putin spiegelt die trügerische Sehnsucht nach einem Imperator, der alles ordnet und richtet und den „kleinen Leuten“, sofern sie sich nicht mit dem Staat anlegen, eine vermeintlich sichere materielle Grundsubstanz garantiert. Dem 12-jährigen Jermolai Romanow, einem anderen Gesprächspartner der Regisseurin, sind künftige Konflikte schon jetzt vorauszusagen. Mit hellem Verstand klagt der Sohn eines unkonventionellen Architektenpaares vehement die immer mehr bedrohte Demokratie in seinem Heimatland ein. Die Eltern ermuntern ihn zu solch offenen Worten, so wie sie naturnahe Häuser bauen, die sich in ihrer Einmaligkeit grundlegend von den sterilen Villen in der Nachbarschaft abheben. Für solche Kreativität, ihre Bedrohung und eine dennoch mögliche Zukunft nutzt die Regisseurin das metaphorische Bild eines schwebenden weißen Luftballons, der zunächst zwischen den Autos auf der Rubljovka fast zerdrückt wird, sich dann aber in die Lüfte erhebt – eine Perspektive, die man auch dem offenherzigen Jungen wünscht. Zu den anderen Figuren des Films gehören eine Pelzhändlerin („Das Gefühl für Zobel haben Russen im Blut“), ein Immobilienmakler („Unsere reichen Kunden mögen den Stil der Adelshäuser aus der Zarenzeit“) und zwei alte, kaum begüterte Anwohnerinnen („Man hat uns von allen Seiten umzingelt wie Indianer im Reservat“). Ein Maler, der sich in der Moskauer Schickimicki-Szene bestens etabliert hat, malt Putin hoch zu Ross als neuen Napoleon; ein Partygirl möchte am liebsten ins Ausland heiraten, bleibt am Ende aber doch an einem begüterten einheimischen Journalisten kleben. Auf ein Gespräch mit den ebenfalls an der Rubljovka lebenden Verwandten des nach Sibirien verbannten Ölmagnaten Chodorkowskij verzichtete die Regisseurin, nachdem ihr bekannt wurde, dass ein Kontakt der Familie zu westlichen Medien zu Haftverschärfungen führen würde. Zu den berührendsten Szenen des Films gehört freilich die Begegnung mit dem Jahrhundertmusiker Rostropowitsch, der kurz nach den Dreharbeiten verstarb. Er war noch zu tiefsten Sowjetzeiten in die von Stalin protegierte Künstler- und Wissenschaftlerkolonie gezogen, hatte sich aber durch seine unzähligen Auslandsauftritte längst von den aktuellen Problemen Russlands entfernt. Im Film schwebt er wie ein Engel herab, freundlich und voller Güte. Der Himmel weiß von der Erde nichts.
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