Dokumentarfilm | Deutschland 2009 | 166 Minuten

Regie: Thomas Heise

Filmisches Essay, das als erratischer Block aus dem Meer audiovisueller Reminiszenzen an Agonie und Aufbruch im deutschen Osten herausragt: Thomas Heise verknüpft Bilder, die er zwischen 1988 und 2008 drehte, unveröffentlichte Szenen, Marginalien zum eigenen Werk sowie zur Zeitgeschichte, die sich zur philosophischen Reflexion über deutsche Brüche und Umbrüche verdichten. Es entfalten sich Situationen und Atmosphären, Vergessenes, Verdrängtes oder nie Gewusstes und verdichten sich zur Beschwörung eines kurzzeitig erlebten Gefühls von Freiheit. Ohne verbale Kommentierung, Erklärung und zeitliche Einordnung muss der Zuschauer in eigener Gedankenarbeit allein durch sein Sehen Erklärungen suchen. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2009
Produktionsfirma
ma.ja.de/Thomas Heise Filmprod./ZDF/ARTE
Regie
Thomas Heise
Buch
Thomas Heise
Kamera
Börres Weiffenbach · Thomas Heise · Sebastian Richter · Peter Badel · Jutta Tränkle
Musik
Charles Ives
Schnitt
René Frölke
Länge
166 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 0
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Dokumentarfilm
Externe Links
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Heimkino

Die Extras umfassen neben dem 24-seitigen Booklet mit Texten von Thomas Heise dessen Filme "Wozu denn über diese Leute einen Film?" (DDR 1980, 34 Min.) und "Das Haus / 1984" (DDR 1984, 56 Min.). Die Edition ist mit dem Silberling 2011 ausgezeichnet.

Verleih DVD
edition filmmuseum (FF, Mono dt.)
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Diskussion
Am Ende des Films gesellen sich Namen zu den Personen, die man in den Bildern der nunmehr zurückliegenden 166 Minuten gesehen hat: Fritz Marquardt, Karl Kneidel, Matthias Stein, Jochen Ziller, Heiner Müller, Stefan Lisewski, Arno Wiszniewski, Kirsten Block, Johanna Schall, Egon Krenz, Siegfried Eisermann, Herbert Schuh, Wolfgang Ernst, Michael Richter, Konrad Roock, Falko Pick, Heidrun Pick, Roland Maier. Und viele andere mehr. Manche Namen erinnert man, man kennt man, manche kann man recherchieren, manche nicht oder nur umständlich. Zuvor hat man nur in Gesichter gesehen, musste die Kontexte, in denen die Aufnahmen entstanden, zu entschlüsseln versuchen. Thomas Heise hat „Material“ anzubieten: Bilder, die aus welchen Gründen auch immer seinerzeit keine Verwendung fanden und übrig geblieben sind. Auf dem Off hört man: „Immer bleibt etwas übrig; ein Rest, der nicht aufgeht. Dann liegen die Bilder herum und warten auf Geschichte.“ Man sieht Bilder einer Straßenschlacht, von der man denken könnte, sie habe in Kreuzberg stattgefunden. Ein Mann versucht, von einem Polizeiwagen aus einen Kontakt zu den Militanten aufzunehmen, indem er auf seine Kreuzberger Herkunft verweist. Auf einem Dach sieht man einige Jugendliche herumstehen, teilweise vermummt. Die Polizei geht zum Angriff über; die Anwesenheit des Kamerateams stört jetzt. Wasserwerfer der Polizei fahren auf. Der Platz ist mit Steinen übersät. Ein bärtiger Mann mittleren Alters nähert sich dem vordersten Wasserwerfer und beschwört die Fahrer aufzuhören. Schließlich kniet er sogar nieder, eine pathetische Geste, die an die Bilder vom Tiananmen-Platz in Beijing erinnert. Die Straßenschlacht geht trotzdem weiter. Seit annähernd zwei Jahrzehnten nicht mehr mit Berliner Lokalkolorit beschäftigt, lerne ich aus einer in der „taz“ erschienenen Filmkritik zu „Material“, dass es sich hierbei nicht um Bilder aus den 1980er-Jahren handelt, sondern um Bilder vom 14. November 1990, als die Mainzer Straße geräumt wurde. Es sind, so der „taz“-Chronist, „Bilder von der letzten großen Schlacht der West-Autonomen im Osten, an der die rot-grüne Koalition zerbrach“. Brauche ich diese Hintergrundinformation, um die Bilder zu „verstehen“? Soll ich diese Bilder überhaupt „verstehen“? Geht es nicht vielmehr um die Distanz zu diesen Bildern? Um die Erfahrung einer historischen Distanz beim Sehen der Bilder, die diese wiederum mit „neuen“ Bedeutungen auflädt? nmittelbar darauf ist man im Theater, wo ein Bühnenbild heftig diskutiert wird. Der Regisseur, offensichtlich von einer schweren Krankheit gezeichnet, hat beschlossen, die Logen des Theaters ins Bühnenbild einzubeziehen, was zu logistischen Problemen führt. Soweit man die aus dem Zusammenhang gerissene Diskussion versteht, geht es dem Regisseur mindestens so sehr darum, die bekannten Nicht-Zuschauer aus den Logen fern zu halten wie um (s)einen inszenatorischen Einfall. In einer der nächsten Szenen erlebt man eine Sprechprobe, bei der Heiner Müller anwesend ist. Wer jetzt textfirm ist oder googlen kann, erfährt, dass es sich hier um Proben zu „Germania Tod in Berlin“ handeln muss, 1988 inszeniert von Fritz Marquart am Berliner Ensemble, kurz vor dem Ende der DDR. Zu dieser Inszenierung kann man interessante Dinge in Heiner Müllers Autobiografie lesen. Auch andere Szenen springen mitten hinein ins Geschehen, teilweise werden sie aus dem Off datiert und auch lokalisiert. Man sieht Bilder von offenbar improvisierten Diskussionen aus der Wendezeit, als man davon sprach, jetzt endlich reinen Tisch zu machen, um dem Sozialismus noch einmal ein tragfähiges Fundament zu geben. Man will Dinge offen ansprechen, spricht Dinge auch offen an oder beschwichtigt, wiegelt ab und unterbricht die Diskussion, als Egon Krenz erscheint, um zu verkünden, dass man die vielfältigen Anregungen und Wünsche aus dem Volk vernommen und schon diskutiert habe. Ergebnissen dieser Diskussionen wolle und könne er nicht vorgreifen, auch das gehöre zur Demokratie. Das Redebedürfnis scheint in jenen Tagen gewaltig gewesen zu sein. Man spürt, dass damals etwas in der Luft gelegen haben mag, was sich nicht realisiert hat. Die Menschen scheinen produktiv wirken zu wollen, so bewusst und wenig aggressiv wählen sie ihre Worte. Die Zäsur zwischen DDR und BRD wird im Film durch die Zäsur zwischen Schwarz-Weiß- und Farbmaterial bezeichnet (zumindest tendenziell, denn die Bilder von der Feier von Fritz Marquarts 80. Geburtstag 2008 sind wieder schwarz-weiß). Deutschland im Jahre Null: Man wird durch „Material“ Zeuge eines Umbruchs, der sich, so Heise, in Räumen, Gesten und dem Rhythmus der Sprache manifestiert. Heise selbst spart sich Kommentare, wenngleich die Abmischung der Musik von Charles Ives manche Szene zu kommentieren scheint. Andere Szenen erschließen sich nicht, vieles scheint aus einer längst vergangenen Zeit zu stammen. Trägt man heutzutage in Berliner Theatern bei Dienstbesprechungen noch immer sein Hemd bis zum Bauchnabel offen? Trägt Proletkult-Lederjacken wie Brecht? Auch die Straßenschlacht in der Mainzer Straße, die gewaltsamen Auseinandersetzungen um eine Vorführung von Heises seinerzeit kontrovers diskutiertem Film „Stau“ (fd 22 615), die irritierend gewundenen Erklärungen von Abgeordneten der Volkskammer zu ihrer Stasi-Tätigkeit, der Abriss des Palasts der Republik – alles Bilder mit einer Verweildauer, die es heute so nur noch im Kino gibt. „Material“ ist ein spannungsgeladener Resonanzraum, der vom Verhältnis von Geschichte und individueller Biografie erzählt, von Dingen, die man erinnern sollte, um zu verstehen, warum die Dinge heute so laufen. Man mag von 1989/90 halten, was man will: Das soziopolitische Gemeinwesen der BRD ist kommunikativ derart verödet, ent-solidarisiert und durchindividualisiert, dass man „Material“ wohl für ein elegisches Dokument einer weiteren verpassten Chance der deutschen Geschichte halten muss. Menschenaufläufe finden heute nicht vor der Börse und den Banken, den Plenarsälen und Ministerien statt, sondern nur beim Public Viewing. Oder wenn ALDI mal die Preise senkt.
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