Vorsicht Sehnsucht

Tragikomödie | Frankreich/Italien 2009 | 103 Minuten

Regie: Alain Resnais

Ein Mann findet das Portemonnaie einer fremden Frau, ergeht sich in Spekulationen über die Besitzerin und stellt dieser so aufdringlich nach, dass sie die Polizei einschaltet. In immer neuen Anläufen illuminiert die multiperspektivische Tragikomödie immer irritierendere Züge der Protagonisten, ohne dass der surreal-absurde Film darüber seinen boulevardesk-verspielten Ton verlieren würde. Eine berauschende Literaturadaption, die sich souverän aller Konventionen entledigt. Mit jugendlicher Nonchalance demonstriert Alain Resnais, was man mit Bildern, Tönen und Bewegungen auf der Leinwand alles anfangen kann. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
LES HERBES FOLLES
Produktionsland
Frankreich/Italien
Produktionsjahr
2009
Produktionsfirma
F Comme Film/France 2 Cinéma/Canal+/Studio Canal/BIM Distribuzione
Regie
Alain Resnais
Buch
Alex Reval · Laurent Herbiet
Kamera
Eric Gautier
Musik
Mark Snow
Schnitt
Hervé de Luze
Darsteller
Sabine Azéma (Marguerite Muir) · André Dussollier (Georges Palet) · Anne Consigny (Suzanne) · Emmanuelle Devos (Josépha) · Mathieu Amalric (Bernard de Bordeaux)
Länge
103 Minuten
Kinostart
22.04.2010
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Tragikomödie
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Diskussion
Wird die Erzählweise eines Films gegenüber der Handlung mitunter nicht unterschätzt? „Vorsicht Sehnsucht“, der neue Film von Alain Resnais, der Anfang Juni seinen 86. Geburtstag feiert, ist die Verfilmung des Romans „L’Incident“ von Christian Gailly. Resnais’ Adaption soll sich recht nah an die Vorlage halten, gleichwohl aber autonom wirken, war im Vorfeld zu lesen. Das macht neugierig auf den Roman, denn der Film ist ein einziger, sehr ironisch vorgetragener Protest gegen Erzählkonventionen, der an Meisterwerke des Regisseurs wie „Hiroshima, mon amour“ (fd 9095), „Letztes Jahr in Marienbad“ (fd 10 656), „Das Leben ist ein Roman“ (fd 24 359) oder „Providence“ (fd 20 898) erinnert, nur dass der Tonfall jetzt leichter, spielerischer ausfällt. Man sollte nicht vergessen, dass Resnais’ vorletzter Film, „Pas sur la bouche“ (2004), eine übermütige Operette war, die es leider nicht in die deutschen Kinos geschafft hat. Die Geschichte von „Vorsicht Sehnsucht“ ist trivial. Einer Frau, Marguerite, wird die Handtasche gestohlen. Der Dieb wirft die Brieftasche fort, die ein Mann, Georges, findet, der sich Gedanken zu machen beginnt, wie er die Frau, von der er nur wenig weiß, kennen lernen kann. Georges spinnt sich ein (Sehnsuchts-)Bild der Fremden zusammen und fängt an, ihr nachzuspüren, Briefe an sie zu schreiben und sie allabendlich anzurufen – oder die Reifen ihres Autos aufzuschlitzen. Marguerite schaltet die Polizei ein, um sich des Stalkers Georges zu erwehren, wobei der Polizist Bernard de Bordeaux in den Gesprächen weit über das dienstlich Übliche hinausgeht. Immer mehr Schichten trägt der Film auf bzw. legt die Inszenierung bloß. Ein Erzähler mischt sich aus dem Off ein, von dem nie klar wird, wer da spricht und mit welchen Motiven. Oder ob er versteht, was auf der Leinwand eigentlich vor sich geht. Auch Georges besitzt eine kommentierende Off-Stimme. Überdies ist auch die Kamera nicht so recht bei der Sache; sie schweift ab, macht sich autonom. Eine meisterliche Sequenz, die geradezu typisch für den abenteuerlichen filmischen Diskurs von „Vorsicht Sehnsucht“ ist, geht so: Während sie über das Grün des Rasens schwebt, hört man aus dem Off die Stimmen zweier Menschen, die sich für ein Treffen zurecht machen. Die Außenansicht eines Hauses kommt in den Blick. Man rechnet mit einem Schnitt, aber die Kamera schwebt über das Haus hinweg und senkt sich auf die Terrasse, während der Dialog weiterläuft. Ein Auto fährt heran: die Gäste. Erst jetzt sieht man das Paar, das zuvor aus dem Off zu hören war. Im Wohnzimmer wird ein Aperitif eingenommen, man hört ein Gespräch, das eine Mischung aus Dialog und Kommentar sein könnte, während die Kamera sich aufmacht, das Erdgeschoss zu erkunden. Da ist der Esstisch, dort der Grill, an dem jetzt bereits Georges steht und zum Nachschlag auffordert. Tochter Elodie kommt heran und holt sich ein Stück Fleisch, die Kamera antizipiert ihre Bewegung zurück an den Esstisch, wo Georges bereits sitzt. Kein Schnitt, eine einzige Bewegung, die souverän über Zeit und Raum, über Innen und Außen der Figuren verfügt. So geht es weiter. Die Geschichte entfaltet sich – der anfangs so souveräne Georges nimmt irritierende Züge an. Sein Lebensekel paart sich mit Larmoyanz und Misogynie. Dafür scheint die patente Marguerite als Zahnärztin eine ziemliche Katastrophe zu sein, die an einem guten Tag einem Dutzend Menschen Tränen des Schmerzes in die Augen treibt. Trotzdem kommen sich die Welten von Georges und Marguerite ins Gehege, wenngleich nicht ausgeschlossen ist, dass es sich bei einigen Episoden ausschließlich um Projektionen von Georges handeln könnte. Was Tragödie oder Melodram sein könnte, bleibt hier immer Boulevard mit leicht absurd-surrealen Zügen. Nach gut 90 Minuten steht zum ersten Mal „Fin“ auf der Leinwand, aber dieser Schluss wäre überaus konventionell. Stattdessen geht es in die Katastrophe, die aber ausgespart bleibt, weil die Kamera etwas viel Interessanteres entdeckt hat, weshalb sie sich endgültig absetzt – schlicht gegen die zu erwartende Richtung der Kamerabewegung – und „Vorsicht Sehnsucht“ „Vorsicht Sehnsucht“ sein lässt. Am Ende dieser letzten Kamerabewegung stellt ein kleines Mädchen eine rätselhafte Frage: das nächste Abenteuer könnte beginnen, aber für heute ist erst einmal Schluss. 103 Minuten lang hat Meister Alain Resnais gezeigt, was man anstellen kann mit Bildern, Tönen und Bewegungen. Im Presseheft schwärmt er von der Musikalität der Vorlage. Greift man diese Idee auf, dann ist „Vorsicht Sehnsucht“ eine jazzige Improvisation über einen Jazz-Standard. Kein Free Jazz, aber nicht allzu weit davon entfernt.
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