Das Schreiben und das Schweigen. Die Schriftstellerin Friederike Mayröcker

Dokumentarfilm | Deutschland 2010 | 94 Minuten

Regie: Carmen Tartarotti

Porträt der österreichischen Dichterin Friederike Mayröcker, das sie über einige Jahre hinweg auf Lesereisen und bei Spaziergängen, vor allem aber beim Arbeiten in ihrem legendären Wiener Schreibzimmer begleitet. Dabei geht es auch ums Biografische, vor allem um die tiefe Beziehung zu Ernst Jandl; im Zentrum aber steht das Ausloten des Schreibprozesses, wobei die (räumliche) Organisation des Schreibens ebenso wie die Sprache selbst eine zentrale Rolle spielen. Aus der aufmerksam-subtilen Synthese von Bildern und Wörtern ergibt sich eine sensible, von großem Respekt und tiefer Zuneigung geprägte Annäherung an den dichterischen Kosmos der Protagonistin. - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2010
Produktionsfirma
Carmen Tartarotti Filmprod.
Regie
Carmen Tartarotti
Buch
Georges Janett · Carmen Tartarotti
Kamera
Pio Corradi
Schnitt
Ferdinand Ludwig · Carmen Tartarotti
Länge
94 Minuten
Kinostart
14.10.2010
Fsk
ab 0; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Dokumentarfilm
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IMDb

Diskussion
„Das Wichtigste ist dieser Tisch“, sagt Friederike Mayröcker und deutet auf eine aktuelle Ansammlung von Briefen, Büchern, Manuskripten und verschiedenartigen Zettelwirtschaften (handgeschriebene Notizzettel, Maschinengeschriebenes, Fundstücke), die in scheinbar chaotischen Haufen übereinander liegen oder sich in kleinen und mittelgroßen Behältnissen und Waschkörben stapeln. In der Wohnung der österreichischen Lyrikerin sind Tische, Stühle, Böden und Wände mit Papier, Text und Sprache zugewachsen. Einen Film mit und über Friederike Mayröcker zu machen, bedeutet, sich diesem ebenso fragilen wie überbordenden Gebilde anzupassen, der spezifischen Raumarchitektur zu folgen, sich den Regeln und Ordnungen dieses eigenwilligen Arbeits- und Lebenssystems unterzuordnen. Die Regisseurin Carmen Tartarotti, die 1989 mit „1 Häufchen Blume 1 Häufchen Schuh“ bereits einen ersten Film über die Autorin drehte, hat die mittlerweile 84-Jährige über mehrere Jahre mit Kamera und Mikrofon begleitet, auf ihren Lesereisen, aber vor allem dort, wo ihre Texte entstehen: in ihrem Schreibzimmer. Mayröcker hat ihr einen kleinen Platz frei geräumt, einen Stuhl und ein Stück Tisch, gerade groß genug, um dort ein Tonbandgerät aufzustellen. Die Schriftstellerin sträubt sich dagegen, beim Schreiben gefilmt zu werden – „beim Schreiben bin ich selbst schon zu viel“. Und sie sträubt sich gegen das Sprechen. Immer wieder und geradezu hartnäckig spricht sie darüber, dass sie nicht gerne spricht, und dennoch ist „Das Schreiben und das Schweigen“ ganz von ihrer Sprache erfüllt – ihren Gedichten, aber auch dem Sprechen über ihre manische Textproduktion. Erstaunlich sortiert und konkret beschreibt Mayröcker den organischen Entstehungsprozess ihrer Gedichte, wobei allmählich klar wird, dass sich hinter dem vermeintlichen Papierchaos eine Methodik verbirgt, die dafür unabdingbar ist. So erzählt sie, dass sie in einer bestimmten Phase des Schreibens in den zahlreichen Körben zu kramen beginnt und den unfertigen Text mit einem der heraus gefischten Zettel fortsetzt – ein künstlerisches Verfahren, das entfernt an die „écriture automatique“ der Surrealisten erinnert. „Surreale Dinge zum Rüberstreuen“ nennt Mayröcker diese unsortierten Gedanken, die das Zufallsprinzip in die Arbeit einfließen lassen. „Das Schreiben und das Schweigen“ ist ein geduldiger Film, der seine Hauptfigur in keinem Moment spektakularisiert. Carmen Tartarottis Bilder setzen sich nie in Konkurrenz zur Sprache, und sie versuchen auch nicht, sie zu illustrieren. Bilder und Sprache formieren sich vielmehr zu einer neuen Wirklichkeit, die durch Friederike Mayröcker zwar hervorgebracht wird, hinter der sie als konkrete Figur jedoch fast verschwindet – selbst wenn man sie im dicken Pelzmantel durch das winterliche Wien stapfen sieht. „Das Schreiben und das Schweigen“ ist somit weniger eine Dokumentation über die Person Mayröcker als ein intimes Porträt ihres wuchernden Schreibkosmos. Die Inszenierung streift immer wieder lose die biografische Erzählung – die Kindheit, der ungeliebte Beruf der Lehrerin, mit dem sie noch Jahre lang ihren Lebensunterhalt bestritt, ihre Beziehung und Freundschaft zum Dichter Ernst Jandl –, doch der Kern des Films ist die geheimnisvolle Realität, die zwischen der Autorin und dem Textmaterial entsteht. Sowohl das, was benannt wird, als auch das, was sich unausgesprochen im Raum aufhält.
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