Hundert Nägel

- | Italien 2007 | 92 Minuten

Regie: Ermanno Olmi

Ein junger Philosophie-Professor aus Bologna kehrt mit einem Fanal, bei dem er alte Handschriften auf den Boden der Bibliothek nagelt, seinem akademischen Dasein den Rücken und beginnt in der Po-Ebene ein beschaulich-genügsames Leben als Aussteiger. Bald scharen sich Bauern, Fischer und einfache Menschen um ihn, die ihn wie einen Heiligen verehren. Ein visuell und inszenatorisch meisterhaft erzählter Film als Meditation über Mitmenschlichkeit und das Geschenk des Daseins. Als Jesus-Paraphrase driftet er freilich immer stärker ins Naiv-Parabelhafte ab, wobei er sich als fromme biblische Aktualisierung aus dem linkskatholischen Geist der 1960er-Jahre erweist. (O.m.d.U.) - Ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
CENTOCHIODI
Produktionsland
Italien
Produktionsjahr
2007
Produktionsfirma
cinema11undici/Rai Cinema
Regie
Ermanno Olmi
Buch
Ermanno Olmi
Kamera
Fabio Olmi
Musik
Fabio Vacchi
Schnitt
Paolo Cottignola
Darsteller
Raz Degan (Professor) · Luna Bendandi (Zelina, die Bäckerin) · Andrea Lanfredi (Postbote) · Amina Syed (Studentin) · Michele Zattara
Länge
92 Minuten
Kinostart
23.09.2010
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
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Diskussion
„Hundert Nägel“ ist Ermanno Olmis letzter Spielfilm. Während der Dreharbeiten 2006 gab der 75-jährige italienische Regisseur bekannt, dass er nur noch Dokumentationen drehen wolle, wie zu Beginn seiner Laufbahn. Man kann den Film deshalb als eine Art Vermächtnis betrachten, in gewisser Weise sogar als Quintessenz eines von Moden und Neuen Wellen gänzlich unbeeindruckten Filmschaffens, das in mehr als fünf Jahrzehnten bedächtig eine Perle an die andere reihte. Auch das religiöse Thema ist keine Überraschung, wohl aber die Fokussierung auf die Jesusgeschichte, die als zentrale Folie zu erkennen ist. Im Zentrum steht ein junger Philosophie-Professor, der mit seinen langen dunklen Locken und den ebenmäßigen Zügen nicht von ungefähr als „Jesus-Typ“ beschrieben wird. Seine Studenten schickt er mit einem Karl-Jaspers-Zitat in die Semesterferien, das vor dem Verfall der Gegenwart an Profit und Gewinnmaximierung warnt. Doch so wie Jaspers keiner neomarxistischen Anklänge verdächtig war, treibt auch den Dozent keine materialistische Entfremdungstheorie um. Mit einem furiosen Fanal mischt er vielmehr die theologische Fakultät auf, indem er eine wertvolle mittelalterliche Handschrift mit mächtigen Zimmermannsnägeln auf den Fußboden der Bibliothek hämmert und danach verschwindet. Was diesen bizarren, fast als Thriller in Szene gesetzten Büchersturm motiviert, den selbst die Polizei als grelle Installation erkennt, deutet sich in einem kurzen Disput an, in dem das komplette Wissen in Büchern zur Makulatur erklärt wird. Die Flucht des akademischen Lehrers aus den abgedunkelten Textarchiven in die sonnendurchflutete Klarheit der lombardischen Poebene markiert dann auch filmisch einen Bruch: Die ruppig-hart geschnittene „Krimi“-Geschichte weicht einer märchenhaft-beschwingten Fabel, in der sich der Protagonist hoch über dem Fluss ein verfallenes Häuschen herrichtet und durch seine offenherzige Art schnell Freunde findet: eine hübsche, leicht verrückte Bäckerin, den Postboten, die betagten Bewohner illegal errichteter Behausungen nahe dem malerisch-träge vor sich hinfließenden Po. Dabei häufen sich die biblischen Parallelen von ironischen Anspielungen über erzählerische Konstellationen bis zur direkten Adaption, wenn der smarte Gelehrte das Wunder von Kana deutet oder das Gleichnis vom verlorenen Sohn so wiedergibt, als erzähle er es situationsbezogen zum ersten Mal. Visuell und inszenatorisch gelingt es Olmi mühelos, die Aussteigerstory des Intellektuellen mit Leben zu füllen; die Wendung ins Existenziell-Alltägliche besitzt eine hohe Plausibilität und ist vor allem frisch und unverbraucht erzählt. Insbesondere die Bilder vom Fluss und Leben an seinen Ufern verdichten sich zu eigenständiger Schönheit; auch die dezente Liebesgeschichte streut magische Glanzlichter ins Geschehen, die in ihrer raffinierten Verknappung Olmis meisterliche Erzählkunst aufblitzen lassen. Noch immer vom Neorealismus inspiriert, strahlt der Film durch seine Laiendarsteller im Verbund mit den Originalschauplätze eine tiefe menschliche Wärme aus. Doch je eindeutiger der Plot sich als Jesus-Paraphrase zu erkennen gibt, desto stärker driftet er ins Naiv-Parabelhafte. Als finale Konflikt dient eine Auseinandersetzung mit den Behörden, welche die illegalen Hüten der alten Fischer abreißen lassen wollen. Der Dozent ergreift Partei, wird von seinen neuen Freunden aber im Stich gelassen und verhaftet. Am Ende warten seine „Jünger“ sehnsüchtig auf seine Rückkehr, doch obwohl hartnäckig Gerüchte die Runde machen, dass er unterwegs zu ihnen sei, bleibt er verschollen; die biblische „Auferstehung“ findet ihren Widerhall darin, dass die Schaufelbagger unverrichteter Dinge abrücken. Olmi hat den explizit biblischen Fokus des Films damit erklärt, dass es ihm mit der Jesus-Figur um ein „absolutes Beispiel für Menschlichkeit“ gegangen sei, „an den ich mich in den dunkelsten Momenten meines Lebens wenden konnte als Quelle für Hilfe und Trost“. Diese „Confessio“ eines christlichen Filmemachers beantwortet jedoch nicht die Frage, warum sein „Christus von der Straße, nicht der vom Altar“ als stadtflüchtender Bücherfeind das Heil so plakativ in der Abkehr von der Moderne sucht. Trotz der abschließenden Wendung, die Gott ins Prokrustesbett der Theodizee zwängt, wächst der Eindruck, dass Olmis Jesusbild aus den linkskatholischen Aufbrüchen der 1960er-Jahre stammt. Im schmalen Genre der Jesusfilme markiert „Hundert Nägel“ dennoch eine aufschlussreiche Variante, die zwischen Denis Arcands „historischen-kritischem“ „Jesus von Montreal“ (fd 28 106) und dem Neo-Nazarenertum von Mel Gibsons „Die Passion Christi“ (fd 36 417) neue Wege sucht, Frömmigkeit und einen christlich geprägten Existenzialismus zu verbinden.
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