Film socialisme

- | Schweiz/Frankreich 2010 | 101 Minuten

Regie: Jean-Luc Godard

Godards dreiteiliges multilinguales Filmessay spannt mit einer assoziativen Bilderflut und den Kapiteln "Things such as" (eine Schifffahrt durchs Mittelmeer), "Quo Vadis Europa" (zwei Kinder setzen die Reise übers Land fort und suchen Erklärungen) und "Nos Humanités" (historische Plätze in Ägypten, Palästina, Odessa, Griechenland, Neapel und Barcelona) ein Netz aus Chiffren, Bedeutungen und Querverweisen. Bilder und Musik stellen ein dichtes Assoziationsfeld aus politischen, philosophischen, literarischen und kinematografischen Bezugspunkten her und sprengen einen kaum zu überblickenden intellektuellen Steinbruch frei. Ein faszinierender Film als Aufforderung zum Denkexperiment, bei dem die offene Gestalt und die von Widersprüchen aufgeladenen Reflexionen dazu auffordern, den vorgefundenen Widersprüchen nachzugehen. - Sehenswert ab 16.
Zur Filmkritik

Filmdaten

Originaltitel
FILM SOCIALISME
Produktionsland
Schweiz/Frankreich
Produktionsjahr
2010
Produktionsfirma
Vega Film/Wild Bunch/Office Féderal de la Culture/Ville de Genève/Suissimage/Fondation Vaudoise/Fonds Regio Films/Wild Bunch/TSR/George Foundation/Canal Plus
Regie
Jean-Luc Godard
Buch
Jean-Luc Godard
Kamera
Fabrice Aragno · Paul Grivas
Darsteller
Catherine Tanvier (Mutter) · Christian Sinniger (Vater) · Jean-Marc Stehlé (Otto Goldberg) · Patti Smith (Sängerin) · Robert Maloubier
Länge
101 Minuten
Kinostart
18.11.2010
Fsk
ab 0; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Externe Links
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Diskussion
„Ins Kino gegangen. Godard gesehen. Versunken in Bildern und Tönen. „Film Socialisme“ hat der große JLG seinen neues Werk überschrieben. Es soll sein erster, ganz digital gedrehter Film sein. Eines der darin vordergründig anzutreffenden Themen ist: Das Bild. Die Fotografie. Die bewegten Bilder, bald schön scharf, bald verpixelt, als ob mit einem Handy gedreht: Immer ist da jemand mit einer Kamera. Im Presseheft, das so kryptisch ist wie der Film, steht: „Le cinéma ne se trouve plus nécessairement dans les films.“ („Das Kino befindet sich nicht mehr unbedingt im Film.“) Kino ist überall. Kann sein, dass darin der Schlüssel steckt zu diesem Film, der, obwohl bis ins Detail konstruiert, betörend unprätentiös daherkommt. Als dichter Strom von Bildern. Als Geräuschteppich, bestehend aus Fetzen von Dialogen, Musiken und „Ambiance“. Vor allem im ersten Teil immer wieder: Das Rauschen des Windes im Mikrofon, bisweilen so laut, dass Gesagtes verflattert. Abgesehen davon ist dieser erste Teil, wie die Überschrift ankündigt: „Une croisière en Méditerranée“, die Schilderung einer Kreuzfahrt auf dem Mittelmeer. Ein Schiff, riesig, stampft durchs Wasser, tagelang. Es gibt Aufnahmen draußen. Strudelndes Wasser. Regen, der über Decks peitscht. Dann wieder ist das Wasser spiegelglatt klar. Wiederkehrend das Bild eines sich spiralförmig drehenden Fischschwarms. Menschen an der Reling, auf Liegestühlen, im Swimmingpool. Aufnahmen drinnen: Restaurants. Aufenthaltsräume. Die Disco. Das Casino. Immer wieder auch Treppenaufgänge, Zwischenböden. Menschen: Der Fotograf und Constance aus Algerien. Der alte Goldberg, der Bub, das Mädchen, Alissia. Ein Paar. Eine junge Frau, melancholisch. Bekannte: Patti Smith mit Gitarre, der Philosoph Alain Badiou mit Begleitung. Man liest Bücher, redet. Viel und in verschiedenen Sprachen: „To be or not to be – un juif.“ Man spricht. Von Gold. Von Kriegen. Der Geschichte, der Geometrie: „des choses comme ça“ („Sachen, eben“). Als ob es sich dabei um Zwischenstationen handelte, werden Orte angekündigt, deren Geschichte im dritten Teil, „Nos Humanités“ („Unsere Menschlichkeiten“), im Stakkato anklingt: Ägypten (Pyramiden), Palästina (Strand/schlafender Kämpfer), Odessa (die Treppe), Hellas (im Film: „Hell as“), Napoli (Vulkan, fliehende Menschen), Barcelona (Stierkampf, Fußball). Am leichtesten zugänglich erscheint der zweite Teil, „Quo vadis Europa“. Ort der Handlung: Die „Garage Martin“ in Frankreich. Vorne ein Esel, ein Lama. Zapfsäulen. Dahinter Garage, Wohnhaus. Akteure: Vater, Mutter. Zwei Kinder, altklug, wie sie nur bei Godard sind: Florine, bildhübsch, halbwüchsig, ihr jüngerer Bruder, Lucien. Dazu zwei Damen von „France 3“, die ein Interview machen wollen. Die Martins wollen nicht. Die Fernseh-Ladies harren aus. Weil die Träume von Kindern bei Wahlen nicht zugelassen werden. Auf einer Tafel steht dann, dass Florine und Lucien in der zweiten Wahlrunde sind. Hübsch, diese Utopie von den politisierenden Kids. Und: Ein schöner Film, dieser „Film Socialisme“! Godard pur. Schöne Autos. Schöne Frauen. Klug redende Männer. Das Spiel der Farben. Rot – Blau – Grün – Gelb. Weiß und Schwarz. Symbolträchtig simpel. Selbstverständlich kann man das alles auch anders sehen. Oder: Anderes sehen. Godard dürfte das nicht scheren. Fast zuletzt in seinem Film steht „Quand la loi n’est pas juste, la justice passe avant la loi.“ („Wenn das Recht nicht gerecht ist, geht Gerechtigkeit vor Recht.“) Und dann noch: „No comment!“ So sei es.
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