Im Alter von Ellen

Drama | Deutschland 2010 | 101 Minuten

Regie: Pia Marais

Nachdem ihr Partner sie mit einer Anderen betrogen hat, bricht eine Frau aus ihrem bisherigen Leben aus, probiert verschiedene Existenzformen aus und landet schließlich in Afrika. Eine experimentelle philosophische Reflexion, die verschiedene Deutungsmöglichkeiten für den seltsam somnambulen und haltlosen Zustand ihrer Hauptfigur anbietet und sich zwischen universeller Entfremdungsstudie und Frauen-Psychogramm jedem Denken in Schubladen sperrt. Der Film bietet eine anspruchsvolle, dabei faszinierend irritierende Exkursion an die Ränder bürgerlicher Lebenswelten und Sehnsüchte. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2010
Produktionsfirma
Pandora Film Prod./WDR
Regie
Pia Marais
Buch
Horst Markgraf · Pia Marais
Kamera
Hélène Louvart
Musik
Horst Markgraf · Yoyo Röhm
Schnitt
Mona Bräuer
Darsteller
Jeanne Balibar (Ellen) · Stefan Stern (Karl) · Georg Friedrich (Florian) · Julia Hummer (Rebecca) · Alexander Scheer (Bennett)
Länge
101 Minuten
Kinostart
20.01.2011
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Drama
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Diskussion
„Am 20. Jänner ging Lenz ins Gebirg...“ An Georg Büchners Roman über einen Menschen, der sich zurückzieht, verwildert und zugleich frei wird, muss man bei dieser ungewöhnlichen Kinogeschichte denken, die ein Psychothriller der anderer Art ist: „Im Alter von Ellen“, heißt der zweite Spielfilm von Pia Marais, der mit „Die Unerzogenen“ (fd 38 510) ein ungewöhnliches, mehrfach preisgekröntes Debüt gelang. Jetzt erzählt sie von einer Stewardess, die in eine Lebenskrise gerät. Zunächst sieht man diese Ellen ausschließlich von hinten, in einer einzigen langen Einstellung, noch in ihrer Uniform. Sie lebt in einer mehr oder weniger festen, mehr oder weniger bürgerlichen Beziehung. Bald ist klar, dass ihr Freund sie betrogen hat, aber nicht, was beide noch voneinander wollen. Wie lebt man zusammen, wenn man viel unterwegs ist? Diese Frage bildet das Leitmotiv der ersten Gespräche. Es herrscht eine große Müdigkeit zwischen den Partnern, deren Umgang vor allem von Formen aufrecht gehalten wird. Von Anfang an scheint sich Ellen in einer seltsamen Trance zu befinden. Sie wird fast nie laut, zeigt nie einen klaren, eindeutigen Willen. Ihre Äußerungen, ihre Gefühle, ihre ganze Person scheint wie in Watte gepackt. Es liegt eine riesige Distanz zwischen ihr und der Welt. Die Französin Jeanne Balibar spielt diese Frau, die selbst nicht genau weiß, wie ihr geschieht, als sie von einem Moment auf den nächsten ihre Existenz hinter sich lässt und sich, nur mit einem Koffer und in ihrer Fluguniform, auf eine Reise durchs moderne Leben begibt. Wie eine Schlafwandlerin bewegt sie sich, zuerst durch die Berufswelten von Geschäftsreisenden, die sich irgendwo zwischen Meetings verloren haben und bei deprimierenden Partys im Hotelzimmer wiederzufinden hoffen; dann trifft sie auf eine Gruppe linker Aktivisten, Globalisierungs- und Tierversuchsgegner, und probiert, kaum weniger vergeblich, neue Lebensformen aus. „Man muss ständig Fremden vertrauen“, wundert sich Ellen einmal. Überhaupt ist das Leben schwieriger, als man gemeinhin glaubt. Auch das zeigt der Film, den man als universelle Entfremdungsstudie verstehen könnte, aber auch als Experiment, wie eine ohne Geld und Wohnung innerhalb unserer Zivilisation überleben kann, worin der Film gelegentlich an Birgit Möllers „Valerie“ (fd 38 139) erinnert. „Manchmal muss man von etwas wegkommen“, heißt es einmal, was Ellen ernst nimmt, obwohl sie auch nicht besser weiß, wo sie eigentlich hin will. Am Ende landet Ellen in Afrika, weshalb sich der Film auch als modernes Märchen lesen ließe, das sich um eine Frau dreht, die verzaubert wurde. Man muss auch an „White Material“ von Claire Denis denken. „Naivité is a dangerous attitude to have out here“, sagt dort jemand zu Ellen; einer dieser Sätze, die wie Messerstiche treffen. Das Geschehen ließe sich aber auch als Depression oder Burn-Out-Syndrom verstehen, im beliebten Jargon des Therapeutischen, der überall eine potenziell behandelbare Krankheit erkennen möchte – ein großes soziales Beruhigungsunternehmen. Man würde Ellens Verhalten damit als Panikattacken banalisieren, und ihren Schritt aus der narzisstischen Kränkung heraus erklären, dass ihr Ex-Freund mit einer anderen Frau ein Kind erwartet. Er wäre schlicht zum „Frauenproblem“ geronnen. Doch gegen alle diese Interpretationen muss dieser Film als grundsätzliches Statement gegen jede der üblichen Herangehensweisen verstanden werden, als Abwehr jegliches psychosoziales Schubladendenkens, dem er sich immer wieder geschickt entzieht – was mancher Betrachter dem Film nicht verzeihen wird. Marais scheint eher an Beunruhigung und Irritation interessiert, als daran, ihre Figuren zu behandeln und zu kurieren. Man kann in all dem auch grundsätzlicher die Skizze einer Entbürgerlichung erkennen, die Suche nach den vergessenen Hoffnungen und Träumen unserer Zivilisation, einen ebenso traurigen wie mild-ironischen Abgesang auf die untergehende Welt des Westens, die alle ihre Versprechen von Freiheit und Glück verraten hat, eine von Rousseau inspirierte Grand Tour der Entfremdung, die auf andere Weise ins gleiche „Heart of Darkness“ führt wie einst Coppolas „Apocalypse Now“ (fd 22 192). Am Ende steht das Offene, das auch das Nichts sein könnte. Ellen scheint ganz vernünftig, sie bespricht Alltägliches mit den Leuten, agiert, wie es die Anderen tun, und lebt so dahin. Doch es scheint mitunter, als sei in ihr auch jene „entsetzliche Leere“ ohne Angst und Verlangen, von der Büchner im „Lenz“ schreibt. Sie will etwas Sinnvolles machen, sucht den Sinn ihres Lebens, und illustriert doch auch die Unfähigkeit, ihn zu finden. Die Menschen um sie bezeichnet sie, nicht ohne Hochmut, als „Brücke“. Ihr ist, in gewissem Sinne, auf Erden nicht zu helfen. Zugleich ist dieser ausgezeichnete Film, ein erster Höhepunkt deutschen Filmschaffens im Jahr 2011, zwar ein philosophisches Werk, das erfolgreich sehr ernsthafte, tiefe Fragen angeht; es ist aber auch ein unerzogener, anti-akademischer Film, der jederzeit unvorhersehbar und unverfügt bleibt, der immer etwas wagt und ausprobiert, in großartigen Szenen mit Tieren – ein Affe, Hunderte von Hühnern, Katzen und Hunden –, die am allerlebendigsten und am freiesten wirken und deren Verhalten das der Menschen zu spiegeln scheint; ein Film voller trockener Dialoge, kleiner schmutziger wie großer magischer Momente wie jenen, in dem Ellen einem Gepard begegnet, der – betäubt – zum Sinnbild für den Zustand der Hauptfigur wird. Eine Frau, die ihr Leben hinter sich lassen muss, aber nicht weiß, wie es weitergeht.
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