Dokumentarfilm | Deutschland 2011 | 87 Minuten

Regie: Aysun Bademsoy

Drei Jugendliche, ein Deutscher und zwei in Deutschland lebende Türken, geben Auskunft über ihren Ehrbegriff, wobei rasch deutlich wird, dass die Familie, insbesondere Mütter und Schwestern, eine wesentliche Rolle spielen, denen die Selbstständigkeit weitgehend abgesprochen wird. Eine Steilvorlage für den klug konzipierten Dokumentarfilm der türkischstämmigen Regisseurin, die Ehrenmorde in den Mittelpunkt stellt und dabei auf ein drängendes Problem nicht nur in unserer Gesellschaft aufmerksam macht. - Ab 14.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2011
Produktionsfirma
Ma.Ja.De. Filmprod./BR
Regie
Aysun Bademsoy
Buch
Aysun Bademsoy
Kamera
Nikola Wyrwich
Schnitt
Clemens Seiz
Länge
87 Minuten
Kinostart
16.02.2012
Pädagogische Empfehlung
- Ab 14.
Genre
Dokumentarfilm
Externe Links
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Diskussion
Ehre ist in der westlichen Mehrheitsgesellschaft ein etwas aus der Mode gekommener Begriff, im Gegensatz zu Respekt. Der türkischstämmigen Regisseurin Aysun Bademsoy geht es dezidiert um Ehre. Sie befragt drei Jugendliche, die sich nach gewaltsamen Auseinandersetzungen einem Anti-Aggressionsprogramm unterziehen müssen, wobei sie sich den Protagonisten äußerst bedächtig annähert. In der Wahrnehmung der Jugendlichen kann Ehrabschneidung recht unterschiedlicher Natur sein: Im ungünstigsten Moment genügt schon ein Anrempeln, damit die Fäuste fliegen und die Reaktion über jedes besonnene Maß hinaus geht. Doch Bademsoy dringt zu einem tiefer gelagerten Kern vor und findet im Umfeld der Familie immer wieder Reibungsflächen, an denen sich Auseinandersetzungen entzünden. Die Familie scheint unabhängig von ihren konkreten Strukturen und dem jeweiligen Zusammenhalt für alle drei, einen Deutschen und zwei Türken, sakrosankt. Die Väter spielten mit Blick auf das aggressive Verhalten ihrer Söhne eine wesentliche Rolle, doch die vermeintliche Schutzfunktion, die sich die jungen Männer zuschreiben, richtet sich auch auf bzw. gegen die weiblichen Familienmitglieder, denen mehr oder weniger unterschwellig jede Form der Selbstbestimmung untersagt wird. Es ist ein verqueres Menschenbild, wenn die Jugendlichen damit prahlen, nach Lust und Laune zu „vögeln“, von ihren Schwestern aber Enthaltsamkeit verlangen und für sich selbst auf einer „jungfräulichen“ Ehefrau bestehen. Damit bringt die Regisseurin den geschickt aufgebauten Film auf den Punkt: Es geht zwar generell um Ehre, aber in erster Linie um so genannte Ehrenmorde: hilflos-gewalttätige Überreaktionen, wenn in der Familie etwas nicht mehr zu stimmen scheint, wenn der männliche Verhaltenskodex nicht mehr akzeptiert oder die Rolle des Mannes in Frage gestellt wird und dieser recht funktionslos vor sich her wursteln muss. Die Regisseurin macht dies am Fall der Kurdin Sasan B. deutlich, die 2007 von ihrem Mann ermordet wurde. Nach zahlreichen tödlichen Messerstichen übergoss er die Frau mit Benzin und zündete sie an. Eine Vorgehensweise, die haargenau ins Schema der Ehrenmorde passt: Es geht nicht nur um den Tod, sondern um die totale Zerstörung eines Menschen. Vor diesem Hintergrund wirken die Bekenntnisse der drei jungen Männer, die sich immer wieder auf die Familie als die Keimzelle des sozialen Lebens berufen, äußerst befremdlich. Einen etwas willkürlichen Eindruck macht die kontrastierende Rahmung des Film mit Aufnahmen eines Wachbataillons der Bundeswehr und dessen feierlichen Gelöbnisses. Der Deutsche Christian will dort unbedingt Dienst tun, um vielleicht endlich einmal einen Durchblick in sein Leben zu bringen. Natürlich ist auch die Bundeswehr eine vor allem männlich dominierte Welt, in der ein bestimmter Ehrenkodex gilt; die Rückkopplung mit Ehrverständnis der türkischstämmigen Jugendlichen wirkt dennoch wenig erhellend. Abgesehen davon gelingt Aysun Bademsoy indes ein aufrüttelnder Dokumentarfilm, dem Worte des spanischen Barock-Satirikers Francisco de Quevedo vorangestellt sind: „So ist also die Ehre die Torheit des Lebens, wie der Seele.“ Ganz ohne Ehrempfinden geht es wahrscheinlich nicht, aber dass man die Ehre nicht über die Menschlichkeit stellen sollte, das wusste man schon vor 300 Jahren.
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