Dokumentarfilm | Italien 2011 | 77 (24 B./sec.)/74 (25 B./sec.) Minuten

Regie: Paolo Taviani

Semidokumentarischer Film über eine Inszenierung von Shakespeares Tragödie "Julius Caesar" in einer römischen Haftanstalt. Dabei geht es nicht um die filmische Aufzeichnung von Proben und Aufführung, vielmehr um das spannungsreiche Wechselspiel von Gefängnis-Realität, Theaterdrama und dem Medium Film, wobei im Mittelpunkt die Frage nach der Freiheit, ihrem Wert und ihren Gefährdungen steht. Die Eindringlichkeit der Protagonisten, die ihre eigenen Geschichten in ihre Rollengestaltung miteinbringen, sowie eine kluge Inszenierung machen den Film sowohl zu einem ästhetischen Genuss als auch zum intellektuellen Abenteuer. (O.m.d.U.; Preis der Ökumenischen Jury Berlin 2012) - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
CESARE DEVE MORIRE
Produktionsland
Italien
Produktionsjahr
2011
Produktionsfirma
Kaos Cinematografica/Stemal Ent./LeTalee/La Ribalta-Centro Studi Enrico Maria Salnerno/Rai Cinema
Regie
Paolo Taviani · Vittorio Taviani
Buch
Paolo Taviani · Vittorio Taviani
Kamera
Simone Zampagni
Musik
Giuliano Taviani · Carmelo Travia
Schnitt
Roberto Perpignani
Darsteller
Cosimo Rega (Cassius) · Salvatore Striano (Brutus) · Giovanni Arcuri (Cäsar) · Antonio Frasca (Marcus Antonius) · Juan Dario Bonetti (Decius)
Länge
77 (24 B.
sec.)
74 (25 B.
sec.) Minuten
Kinostart
27.12.2012
Fsk
ab 6; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Dokumentarfilm
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Diskussion
Ein kleiner, von Gittern umgebener Hof, auf dem Sträflinge ihre Zeit im Freien verbringen, wird zum Schauplatz eines brutalen Mordes: Eine Gruppe von Männern lockt einen anderen Mann, einen Anführer, in diesen Zwinger. Dann wenden sie sich auf einmal alle gegen ihn, stechen auf ihn ein. Dies könnte der blutige Höhepunkt von Bandenquerelen innerhalb des Knasts sein, ist es aber nicht: Es ist Theater. Und Kino über Theater. Und doch auch irgendwie dokumentarisch. Der Ermordete ist nicht tot, er ist ein Häftling, der im Rahmen eines Theater- und Filmprojekts in der römischen Haftanstalt Rebibbia den Julius Caesar in Shakespeares gleichnamiger Tragödie spielt. Lanciert haben dieses Projekt die Brüder Paolo und Vittorio Taviani. Auslöser dazu war die Knast-Inszenierung einer Dramatisierung von Dantes „Göttlicher Komödie“; sie machte die Regisseure auf die Qualität der Theater-Workshops in Rebibbia aufmerksam und ließ sie den Kontakt zu Fabio Cavalli suchen, einem der Verantwortlichen für die Theateraktivitäten in dem Gefängnis. An ihn traten sie mit dem Plan heran, mit den Sträflingen das Shakespeare-Projekt umzusetzen; er unterstützte sie beim Verfassen des Drehbuchs. Das Ergebnis entzieht sich einer klaren Genre-Verortung: Es handelt sich nicht um eine schlichte Dokumentation der Proben und der Aufführung, vielmehr um einen semidokumentarischen Theaterfilm, bei dem die Gefängnisrealität, Shakespeares Drama und das Medium Film in einen optisch wie intellektuell frappierenden Austausch treten und die Grenzen zwischen Bühne, Filminszenierung und Leben ständig oszillieren. Der Film beginnt in farbigen Aufnahmen wie ein Theatermitschnitt: Auf einer schlichten Bühne wird der Schluss von Shakespeares Tragödie um Caesars Ermordung und die anschließende Niederlage der Attentäter gegeben. Brutus stürzt sich in sein Schwert, Marc Anton zollt dem Leichnam des Gegners Respekt – Applaus brandet auf. Erst, wenn die Kamera mit den Zuschauern den Theatersaal verlässt und ein Wachturm und uniformierte Wächter ins Bild kommen, weiß man, dass man sich in einem Gefängnis befindet. Die, die kurz zuvor Brutus, Caesar und Marc Anton waren, werden als Häftlinge in ihre Zellen gesperrt. Dann weicht die Farbe schwarz-weißen Bildern, und ein Zwischentitel erläutert, dass das Folgende sechs Monate früher spielt. Beginnend mit den Castings – eine wunderbare, komisch-anrührende Sequenz, die die Protagonisten pointiert einführt –, zeigt der Film die Auseinandersetzung der Sträflinge mit ihren Rollen: Sie bringen nicht nur ihre eigenen Dialekte mit ein (was im Kino gewürdigt werden kann, weil der Film im Original mit deutschen Untertiteln gezeigt wird), sondern auch ihre Lebenshintergründe. Gleichzeitig entfaltet sich vor dem Kinozuschauer im Zuge der Proben bereits eine fragmentarische Inszenierung von Shakespeares Stück, die nicht auf einer Bühne stattfindet, sondern in verschiedenen Räumen des Gefängnisses. So planen die Verschwörer um Brutus ihr Komplott zur Ermordung Caesars in den Gängen und in den Zellen (manchmal im direkten Dialog, manchmal stellt erst die Montage den Dialog her, während die Männer eigentlich in getrennten Zellen sind); die Aufbahrung des toten Caesars und die Leichenreden Brutus’ und Marc Antons finden in einem Innenhof der Anstalt statt, während Insassen von ihren Fenstern aus zusehen und sich in das römische Volk und den Gefängnishof in eine Art Amphitheater verwandeln. Die Wahl des schwarz-weißen Materials und die streng, oft geometrisch kadrierten Bilder dienen nicht nur der zeitlichen Absetzung der Proben-Vergangenheit von der Aufführungs-Gegenwart, sondern bringen gleichzeitig einen gewissen Abstraktionsgrad mit ins Spiel, der verdeutlicht, dass es hier nicht ums Einfangen eines authentischen Vorgangs, sondern um eine Inszenierung geht. Zwar sind die meisten Darsteller tatsächlich Häftlinge (bis auf den hervorragenden Brutus-Darsteller Salvatore Striano, der auch einen Knast-Hintergrund hat, zur Zeit, als „Caesar muss sterben“ gedreht wurde, seine Strafe aber schon abgebüßt hatte), jedoch folgen sie auch dann einem Drehbuch, wenn sie aus ihren Shakespeare-Rollen heraustreten und wieder sie selbst sind. Um was es den Tavianis dabei geht, ist ein Dialog über Freiheit: zwischen der Filmkamera, den Sträflingen und Shakespeares wohl kontroversestem Stück, das im Jahr 1599 erschien. Ist es ein radikal republikanisches Drama, das zum zur Not auch gewaltsamen Widerstand gegen jede absolutistische Machtanmaßung aufruft? Oder ist es ein Stück, das die gewaltsame Revolution verurteilt? Der Text liefert beiden Lagern Munition und bildet für die Sträflingen eine Folie, um eigene Erfahrungen mit Macht und Gewalt, Freiheit und Unfreiheit, mit Loyalität und Verrat zu formulieren – was für den Kinozuschauer wiederum eine Reibungsfläche abgibt, um den eigenen Begriff von Freiheit zu hinterfragen. So eindringlich, so assoziationsreich hat man Shakespeare schon lange nicht mehr im Kino erlebt.
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