- | Großbritannien 2010 | 114 Minuten

Regie: Joanna Hogg

Eine Familie trifft sich in ihrem Ferienhaus auf einer abgeschiedenen Insel im äußersten Südwesten Großbritanniens. Während die Abreise des Sohns nach Afrika bevorsteht und man auf den Vater wartet, geht man sommerlichen Unternehmungen wie Wandern und Radfahren nach, wobei sich unter der sorgsam gehüteten Glasglocke großbürgerlicher Umgangsformen unterdrückte Konflikte und Neurosen abzeichnen. Ohne die Figuren psychologisch auszudeuten, arbeitet der Film eindrucksvoll die Symptome einer familiären Zerrüttung heraus und verkehrt die Weite der Insel-Landschaft in einen klaustrophobischen Raum bürgerlicher Repressionen. (O.m.d.U.) - Ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
ARCHIPELAGO
Produktionsland
Großbritannien
Produktionsjahr
2010
Produktionsfirma
Wild Horses Film Company
Regie
Joanna Hogg
Buch
Joanna Hogg
Kamera
Ed Rutherford
Schnitt
Helle le Fevre
Darsteller
Christopher Baker (Christopher) · Kate Fahy (Patricia) · Tom Hiddleston (Edward) · Andrew Lawson (Chefgärtner) · Lydia Leonard (Cynthia)
Länge
114 Minuten
Kinostart
24.05.2012
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Externe Links
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Diskussion
Im Wohnzimmer zeichnet sich über dem Kamin eine Lücke an der Wand ab. Wo zuvor noch ein Bild hing, zeugt nun ein helles Rechteck von seiner vormaligen Anwesenheit. Cynthia, die das Gemälde zu Beginn des Films entfernt, blickt zufrieden auf ihr Werk; jetzt scheint alles im Reinen zu sein für den beginnenden Familienurlaub. Tatsächlich aber gibt sich der helle Schatten wie ein „Bild“ für das angegriffene Beziehungsgeflecht der Familie zu erkennen: ihre unterrückten Aggressionen, das Unausgesprochene und permanente Sich-Entziehen, ihre erstaunlichen Verdrängungsleistungen. „Archipelago“ spielt auf einer kleinen Insel im äußersten Südwesten Großbritanniens, die man nur mit einem Helikopter erreicht – ein ebenso entlegener wie elitärer Urlaubsort mit fast mediterranem Flair, prädestiniert für das Zelebrieren eines sich besonders exklusiv gebenden familiären Zusammenhalts. Anlass des Familientreffens ist ein Abschied: Edward, der Sohn, plant den Aufbruch nach Afrika, wo er für ein Jahr an einem AIDS-Präventionsprojekt mitarbeiten wird. Neben Cynthia, seiner Schwester, und der Mutter Patricia ist auch die eigens engagierte Köchin Rose in dem Ferienhaus untergebracht. Der Vater soll später nachkommen. Joanna Hogg etabliert ein klaustrophobisches Setting, das extrem im Widerspruch zur Behauptung der Landschaft als Weite und Unberührtheit steht – und nicht zuletzt an Eric Rohmers Unternehmungen in der freien Natur (Wandern, Fahrradfahren) erinnert, denen schon durch das diesige Licht eine gebremste, undurchsichtige Stimmung eigen ist. Die Familie bewegt sich vor allem durch ihren kultiviert-bourgeoisen Verhaltenskodex, nach dem jedes Problem im Keim erstickt und auf Nebenschauplätze umgelenkt wirkt, wie unter einer Glocke. Dabei entzieht Hogg ihrem Film konsequent den Boden eines psychologischen Realismus, wenn die Konflikte – Eifersucht, Anerkennungsdefizite – weder direkt verhandelt noch ihre Hintergründe erforscht, sondern als bloße Symptome offen gelegt werden. Edwards ausgeprägtes Interesse an der Köchin Rose wird von Cynthia bissig kommentiert, allerdings nicht ohne dem Verdacht des Standesdünkels voraus zu greifen; die Figuren wissen sich zu tarnen, ihre wahren Motive, die sie vielleicht selbst gar nicht kennen, verbergen sich hinter Ticks und Zwanghaftigkeiten. Auch die Beziehung zum abwesenden Vater, der in wiederholten Anrufen seine Ankunft aufschiebt und schlussendlich absagt, ist symptomatisch, immerhin führt Patricias erzwungene Selbstbeherrschung die finale Eskalation erst herbei. In einer brillanten Restaurant-Szene treten die absurden Konfliktverschiebungen am offensichtlichsten zu Tage. Zunächst findet sich in dem leeren Lokal kein Tisch, der Cynthia zusagt, wobei sie stets vorgibt, nur die Interessen der anderen im Blick zu haben. Schließlich beklagt sie sich beim Kellner über ihr angeblich zu roh gebratenes Fleisch und versucht dabei erfolglos, einen Geschwisterwettkampf zu entfachen. Das betretene Schweigen der Familie und ihre Nicht-Einmischung reizen Cynthia noch mehr, und der Beweis ihrer vermeintlichen Rationalität und Objektivität schlägt ins Gegenteil um: in Hysterie und Neurose. Die lose, zielungerichtete Inszenierung erinnert in manchen Momenten an eine britische Version des „Mumblecore“; auch setzt Hogg zum Teil Laiendarsteller ein. Dabei weicht der Naturalismus hier wesentlich stilisierteren Setzungen – freilich ohne die grundsätzliche Offenheit aufzugeben. Intime Nähe vermittelnde Aufnahmen gibt es ebenso wenig wie Musik, dafür ist der Klang umso wichtiger: das Vogelgezwitscher im Garten oder das Klappern des Geschirrs treten oft an die Stelle von Gesprächen. In den Innenräumen wählt Hogg statische Einstellungen, in denen sich der verdruckste Umgang der Familie eingehend studieren lässt. Kommunikative Pausen wirken in die Länge gezogen; man kann regelrecht dabei zusehen, wie die Luft über dem Esstisch dicker wird. Was mit dem Material der aufgebrochenen Konflikte weiter geschieht, bleibt offen. Eine Lücke zumindest ist geschlossen: Das störende Bild hängt am Ende der Ferien wieder an der Wand.
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