Drama | VR China/Japan 2013 | 130 Minuten

Regie: Jia Zhang-Ke

Vier Geschichten aus der chinesischen Gegenwart: Ein Minenarbeiter begehrt erst friedlich, dann gewaltsam gegen die Korruption in seinem Dorf auf, ein Wanderarbeiter führt ein Leben als Raubmörder, die Rezeptionistin eines Bordells tötet einen zudringlichen Freier, ein junger Mann begeht angesichts fehlender Perspektiven Selbstmord. Das auf realen Begebenheiten beruhende Drama entfaltet in den lose zusammenhängenden Episoden eine pessimistische Bestandsaufnahme des Landes. Die meisterhafte, im Kern zutiefst humane Studie über eine von Gewalt und Gefühlskälte beherrschte Gesellschaft scheut auch krasse und blutige Szenen nicht. Diese geraten nie zum Selbstzweck, sondern werden als Reaktion auf Demütigung und die Missachtung menschlicher Würde dargestellt. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
TIAN ZHU DING
Produktionsland
VR China/Japan
Produktionsjahr
2013
Produktionsfirma
Xstream Pictures/Office Kitano/Shanghai Film Group
Regie
Jia Zhang-Ke
Buch
Jia Zhang-Ke
Kamera
Yu Likwai
Musik
Giong Lim
Schnitt
Matthieu Laclau · Lin Xudong
Darsteller
Jiang Wu (Dahai) · Wang Baoqiang (Zhou San) · Zhao Tao (Xiao Yu) · Luo Lanshan (Xiao Hui) · Zhang Jia-yi (Xiao Yus Geliebter)
Länge
130 Minuten
Kinostart
16.01.2014
Fsk
ab 16; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Drama
Externe Links
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Heimkino

Die Extras umfassen u.a. ein 16-seitiges Booklet.

Verleih DVD
REM (16:9, 2.35:1, DD5.1 Mandarin/kanton.)
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Der Mann auf dem Motorrad trägt eine Mütze, auf der ein roter Bulle prangt, das Emblem der Basketballmannschaft „Chicago Bulls“. Wie ein wilder Stier geht er vor, als er auf einer nordchinesischen Bergstraße von drei Äxte schwingenden Wegelagerern gestoppt wird. Ohne mit der Wimper zu zucken, zieht er eine Pistole und entledigt sich der Räuber. Ein paar hundert Meter weiter kommt er an einem umgekippten Gemüselaster vorbei, um den sich eine Menschenansammlung gebildet hat. Anscheinend unberührt spielt ein zweiter Motorradfahrer mit einer Tomate. Gerade als er hineinbeißen will, ereignet sich hinter der nächsten Abbiegung eine Explosion – offensichtlich ist in einer der Kohleminen der Provinz Shanxi wieder einmal ein Unglück geschehen. Mit Bildern voller emotionaler Wucht taucht der chinesische Regisseur Jia Zhangke tief in eine Atmosphäre der Gewalt in der modernen chinesischen Gesellschaft ein. Vier Episoden, die auf realen Begebenheiten beruhen, zeigen Menschen in unterschiedlichen Teilen des Landes, die in der bedrohlichen Allgegenwart von Gefahr, Hoffnungslosigkeit und emotionaler Kälte über den Rand des Erträglichen hinausgetrieben werden. Da ist zunächst der Mann mit der Tomate, der Minenarbeiter Dahai, der gegen die Korruption in seinem Dorf aufbegehrt, während sich alle übrigen längst damit abgefunden haben. „Du lebst in der falschen Zeit“, hält ihm ein Kollege vor, andere wenden sich demonstrativ von ihm ab; seine Vorgesetzten lassen ihn brutal zusammenschlagen, als er ihnen lästig wird. Als Dahai seinerseits zur Waffe greift, befindet er sich bald auf einem blutigen Rachepfad. Die weiteren Episoden variieren das Muster des ersten Kapitels: Zhou San, den Motorradfahrer aus dem Prolog, treibt die allgemeine Perspektivlosigkeit dazu, in Großstädte zu fahren und wohlhabende Mitbürger zu töten und zu berauben. Xiao Yu, die an der Rezeption eines Bordells arbeitet, ist einem zudringlichen Kunden ausgeliefert, gegen den sie sich gewaltsam zur Wehr setzt. Der junge Hilfsarbeiter Xao Hui schließlich zieht von einem Job zum nächsten, ohne dass sich etwas zum Besseren wendet, und stürzt sich am Ende in den Tod. Diese einzelnen Teile des Films verknüpft Jia Zhangke mit subtilen Anspielungen untereinander. Gemeinsam ist ihnen im Wesentlichen der gewaltsame Ausgang, der nicht als Lösung für irgendein Problem zu verstehen ist, sondern als unausweichliche Entwicklung. Neben dem fatalistischen Gestus des Films fällt vor allem die drastische Inszenierung der Gewaltexplosionen auf, mit denen sich der Jia Zhangke, der bislang für ruhig erzählte Gesellschaftsstudien wie „Still Life“ (fd 38 340) bekannt war, den rauen Stil eines Kim Ki-Duk oder Takeshi Kitano aneignet. Als Inspiration nennt er auch die Wuxia-Filme von King Hu, dessen Klassiker „Ein Hauch von Zen“ (fd 23 417) er mit dem Filmtitel die Reverenz erweist. Die Hauptfiguren gehören wie in seinen früheren Werken zu den Unterprivilegierten, doch statt ihre Wut für sich zu behalten, lassen sie ihr freien Lauf: Dahai schießt seinem ersten Opfer das halbe Gesicht weg und geht mit jeder weiteren Bluttat kaltblütiger vor; Xiao Yu schlachtet den Mann, der sie mit einem Bündel Geldscheine traktiert, regelrecht ab. Die Gewalt gerät freilich nie zum Selbstzweck, denn die humanistische Absicht bleiben stets erkennbar. Der „Sündenfall“, auf den der Film anspielt, ist Chinas Öffnung für einen inhumanen Kapitalismus, in dem die Schwachen untergehen müssen, was zur wachsenden Gleichgültigkeit und Verrohung der Gesellschaft führt. Während die oberen Kader dem Geld huldigen, kann der große Rest der Bevölkerung einzig durch Waffeneinsatz seine Würde bewahren. Dass Zhou San das Neujahrsfest feiert, indem er seine Pistole in den Himmel abfeuert, und Xiao Yu bei der Trennung von ihrem Geliebten ein Messer als Abschiedsgeschenk erhält, sind prägnante Details innerhalb eines Films, der für die gesellschaftlichen Missstände ausgesprochen eindrückliche Bilder findet. Städte und Dörfer erscheinen als Heimstätten sozialer Ungerechtigkeit, die Straßen dazwischen als weitgehend rechtsfreier Raum. Die Haltung des Films ist pessimistisch; in China verweigerten die Zensurbehörden eine Freigabe für die Kinos. Der Rest der Welt aber gewinnt unerwartete und bedrückende Einblicke in ein Land, das eine neue große Mauer errichtet hat, die mitten durch seine Bevölkerung verläuft.
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