Wiedersehen mit Brundibár

Dokumentarfilm | Deutschland/Tschechien 2014 | 88 Minuten

Regie: Douglas Wolfsperger

Die Jugendtheatergruppe der Berliner Schaubühne will die Kinderoper „Brundibár“ neu aufführen, die 1942 im KZ Theresienstadt entstand und auch in den NS-Propagandafilm „Theresienstadt“ (1945) Eingang fand. Bei der Recherche lernen die aus prekären Verhältnissen stammenden Jugendlichen die überlebende Hauptprotagonistin Greta Klingsberg kennen und entdecken, dass auch damals schon mit „Brundibár“ der verzweifelte Wunsch nach einer normalen Kindheit verbunden war. Ein eindringlicher Dokumentarfilm, der die Erinnerung an den Holocaust ebenso kreativ wie persönlich mit gegenwärtigen Problemen verbindet. - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
WIEDERSEHEN MIT BRUNDIBÁR
Produktionsland
Deutschland/Tschechien
Produktionsjahr
2014
Produktionsfirma
Douglas Wolfsperger Filmprod./Cine-Impuls/Negativ Film Prod./WDR
Regie
Douglas Wolfsperger
Buch
Douglas Wolfsperger
Kamera
Frank Amann · Igor Luther
Musik
Alex Komlew
Schnitt
Frank Brummundt
Länge
88 Minuten
Kinostart
04.12.2014
Fsk
ab 0; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Dokumentarfilm
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Heimkino

Verleih DVD
puls entertainment
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Diskussion
Fast 70 Jahre nach der Uraufführung der Kinderoper „Brundibár“ im Konzentrationslager Theresienstadt adaptiert die Theatergruppe „Die Zwiefachen“ das Stück neu, das auf abscheuliche Weise von den Nazis zu Propagandazwecken missbraucht wurde. Die jungen Schauspieler, die allesamt aus prekärenVerhältnissen stammen, beschäftigen sich bei der Neuinszenierung nicht nur intensiv mit der Oper, sondern auch mit deren Geschichte. Gemeinsam mit Greta Klingsberg, damals Mitglied des Kinderensembles im KZ Theresienstadt, nähern sie sich in diesem einfühlsamen Dokumentarfilm sehr persönlich und kreativ dem Thema „Erinnerung an den Holocaust“ an. Regisseur Douglas Wolfsperger wollte mit „Wiedersehen mit Brundibár“ eine einzige Frage filmdokumentarisch beantworten – und sie als Filmbild festhalten, so lange es noch möglich ist: Wie kann die Geschichte des Holocaust so vermittelt werden, dass daraus tatsächlich eine Art Verständnis entsteht? Fast ohne Budget reiste das Filmteam mit der Berliner Theatergruppe „Die Zwiefachen“ und Greta Klingsberg nach Terezín, dem ehemaligen Theresienstadt. Dort, am Ort des Verbrechens und dem Aufführungsort der Kinderoper „Brundibár“, sollte eine erste Begegnung der Generationen stattfinden. Auf der einen Seite die „Zwiefachen“, eine Jugendtheatergruppe, deren Mitglieder nicht mehr bei ihren Eltern, sondern in Wohnprojekten leben und an der Schaubühne kreativ arbeiten können. Ihr Auftrag ist eine Neuinterpretation von „Brundibár“. Die andere Seite markiert Greta Klingsberg, eine über 80-jährige Wiener Jüdin und Hauptprotagonistin jener Kinderoper, die im KZ Theresienstadt über 50 Mal aufgeführt wurde. Zu Beginn befinden sich die beiden jungen Schauspielerinnen Ikra und Annika auf dem Gelände des ehemaligen KZ Theresienstadt. Es ist ein wunderschöner Sommertag. Durch die grünleuchtenden Bäume und das helle Licht verliert sich der Schrecken des Ortes. Das lässt die Krux jeder Erinnerungskultur unmittelbar aufscheinen. Denn die mediale Vermittlung jenes furchtbaren Schreckens der NS-Verbrechen ist umso schwieriger, je weniger der Erinnerungsort auf junge Menschen unmittelbar wirkt. Das einstige KZ kann erschreckend irreal auf Besucher wirken. Umso bedeutender ist die Begegnung mit Menschen, die erlebt haben, woran viele nicht denken mögen: Die Begegnung mit der Holocaust-Überlebenden Klingsberg macht Geschichte plötzlich ungewohnt wirklich. Der Film beobachtet die Darsteller nicht nur während der Arbeit am Stück, sondern während einer Erfahrung. Durch die Arbeit an der Kinderoper, deren Inhalt und Rezeptionsgeschichte sowie der Begegnung mit der sehr ernsten, aber herzlichen Greisin entdecken die Jugendlichen sehr viel über sich selbst, aber auch über die Schwierigkeiten, das grausige Geschehen zu verstehen. Ganz ähnlich, wie die Oper „Brundibár“ den inhaftierten Kinder eine kurzzeitige Flucht aus dem Lageralltag bot, funktioniert auch die Adaption für die jungen Schauspieler heute: als zeitlich begrenzter Ausweg aus einem problematischen Alltag. Die künstlerische Theaterarbeit dient als Katharsis und als Vermittlungsmedium – persönlicher Probleme wie auch der Geschichte. Auf diese Weise haben die „Zwiefachen“ für sich eine Brücke zur Vergangenheit gefunden, indem sie Gemeinsamkeiten entdecken. Filmisch wird dies vor allem durch den Schnitt untermalt. Filmausschnitte aus dem Propagandafilm „Theresienstadt. Ein Dokumentarfilm aus dem jüdischen Siedlungsgebiet“ (1945) werden abwechselnd neben gegenwärtige Aufnahmen montiert. So ergeben sich Parallelen und machen visuelle wie inhaltliche Zugänge deutlich. Auf diese Weise mischen sich unterschiedlichen historischen (Film-)Quellen, die emotional auf den Zuschauer wirken: Auf der einen Seite wird Geschichte direkt durch Zeitzeugen repräsentiert, auf der anderen Seite lediglich indirekt durch dokumentarisches Film-, Bild- und Audiomaterial aus der Nazi-Zeit oder den Familienalben von Greta Klingsberg. Ein Konglomerat unterschiedlicher Quellen, das auf einen grundlegenden Aspekt von Bildern hinweist: Sie sind immer unzuverlässig und müssen jederzeit kritisch gesehen werden. Das wird noch offenkundiger, wenn bedacht wird, unter welchen Umständen die Aufnahmen der Kinderoperaufführung aus dem Jahr 1944 in den nationalsozialistischen Propagandafilm „Theresienstadt“ verwendet wurden. Die Protagonisten von „Wiedersehen mit Brundibár“ werden inszeniert, ohne unangenehm rührselig zu werden. Alle Beteiligten werden in ihrem Umgang sehr intim gezeigt, wenngleich die Kamera stets respektvoll auf Distanz bleibt. Es gab kein ausgearbeitetes Drehbuch; die Kamera wurden bei den Begegnungen der Generationen zeitweilig einfach eingeschaltet. Umso echter und ehrlicher wirkt der Film. Wolfsperger gelingt es auf diese Weise eindrucksvoll, eine Möglichkeit der Vermittlung des Holocaust praktisch und filmisch in ein – nicht nur pädagogisch – bemerkenswertes Werk einzubinden.
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