Imagine Waking Up Tomorrow and All Music Has Disappeared

Dokumentarfilm | Schweiz/Deutschland 2015 | 86 Minuten

Regie: Stefan Schwietert

Ausgehend von der Überlegung, wie sich die Menschheit im Falle eines plötzlichen Verschwindens jeglicher Musik verhalten würde, begleitet der Dokumentarfilm ein Projekt des schottischen Musikers Bill Drummond („The KLF“): Dieser reist durch ganz Großbritannien und bittet unterschiedliche Gruppen, sich eine genuine Form der Musik auszudenken, die er aufzeichnet, abspielt und dann wieder zerstört. Der Film stellt sich ganz in den Dienst seines Protagonisten und schwingt sich zu einer nachdenklichen Betrachtung über den vergänglichen Charakter von für selbstverständlich gehaltene Kunstformen auf. - Sehenswert ab 12.
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Filmdaten

Originaltitel
IMAGINE WAKING UP TOMORROW AND ALL MUSIC HAS DISAPPEARED
Produktionsland
Schweiz/Deutschland
Produktionsjahr
2015
Produktionsfirma
Flying Moon Filmprod./Maximage/SRF/SSR
Regie
Stefan Schwietert
Buch
Stefan Schwietert
Kamera
Adrian Stähli
Musik
Jan Tilman Schade
Schnitt
Frank Brummundt · Florian Miosge
Länge
86 Minuten
Kinostart
22.10.2015
Fsk
ab 0; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 12.
Genre
Dokumentarfilm | Musikdokumentation
Externe Links
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Musikdoku-Spezialist Stefan Schwietert spürt dem Gedankenspiel einer Welt ohne Musik nach

Diskussion
Der Musik – der Worldmusic, der Klassik, dem Jazz, aber auch: Klängen, Tönen, Geräuschen – ist Stefan Schwietert schon lange auf der Spur. In fein elaboriert dichten und bilderprächtig fotografierten Dokumentarfilmen, die ihn mit Titeln wie „El Accordéon del Diablo“ ((fd 34 734), 2000), „Das Alphorn“ (2002), „Accordion Tribe“ ((fd 37 011), 2004), „Heimatklänge“ ((fd 38 379), 2007) und „Balkan Melodie“ ((fd 41 529), 2012) rund um die Welt tragen. Nun hat Schwietert „Imagine Waking Up Tomorrow and All Music Has Disappeared“ gedreht, einen Film über den Konzeptkünstler Bill Drummond. Dass der in der Schweiz aufgewachsene, heute in Berlin wohnhafte Filmemacher, Jahrgang 1961, Drummond irgendwann begegnen würde, war weniger eine Frage des Zufalls, als des Zeitpunkts: Der Schotte ist wie Schwietert ein Reisender in Sachen Musik, wenn auch seit einigen Jahren in anderem Anliegen als Schwietert unterwegs. Derweil Schwietert aufzeichnet und konserviert und somit einiges zur Erhaltung des klingenden Welterbes beiträgt, hat sich Drummond, seit 1977 in verschiedenen Formationen als Musiker unterwegs, Anfang der 1990er-Jahre von der Konservenmusik und dem Musikkommerz abgewendet. Er tat dies im Zenit seiner Karriere: wenige Wochen nachdem seine fünf Jahre davor gegründete Acid-House-Band „The KLF“ 1992 bei den BRIT Awards als beste britische Gruppe ausgezeichnet worden war. Drummond löste The KLF damals nicht nur auf, sondern erwarb auch alle Rechte an den veröffentlichten Songs und kaufte die noch im Handel befindlichen Singles und Alben auf: Irgendwann in Schwieterts Film stehen der Regisseur und sein Protagonist im Container, in dem Drummond die Musik von The KLF aufbewahrt. „Das ist nun also all die Musik, die ich im Film nicht verwenden darf“, stellt Schwietert fest; die Frage ist rhetorisch. Kennen gelernt haben sich Drummond und Schwietert vor fünf Jahren in Oldenburg. Schwietert trug sich damals mit einer Projektidee, die „Off the Beat“ hieß und ihn von seinem bisher polaren Schaffen – hier der Künstler, da die Bühne, dort das Publikum – wegführen sollte zur Frage, welche Funktion Musik heute hat und wie die Menschen damit umgehen. An diesem Punkt überschnitt sich sein Vorhaben mit dem, was Drummond gerade trieb: Er war damals mit „The 17“ unterwegs, einem Chorprojekt, das aus unzähligen verschiedenen „Scores“ besteht, welche Drummond mit ad hoc zusammengestellten Laien-Chören aufführte. Die dem Projekt zu Grunde liegende Idee ist, dass jedermann mitmachen kann und jede Aufführung einmalig und flüchtig ist. Der in Oldenburg ausgeführte „Score 328“ heisst „Surround“. Drummond hat diesen in diversen anderen Städten – Genf, München, London – ebenfalls aufgeführt; einer der Knackpunkte von „Imagine Waking Up Tomorrow and All Music Has Disappeared“ war, diese Performances, deren Aufzeichnung Drummond eigentlich untersagt, im Film doch stattfinden zu lassen. Tatsächlich hat sich Schwietert, der für gewöhnlich intensiv mit assoziativen Ton- und Bildfolgen arbeitet, diesmal ganz in den Dienst seines Protagonisten gestellt. Worte wie „Einfachheit“ und „puristische Strenge“ nimmt er in den Mund, wenn er über „Imagine…“ spricht: Bis auf eine großartige verschmitzte Szene, in der im Rückspiegel von Drummonds Land Rover plötzlich eine Horde singender Wikinger auftaucht – verströmt „Imagine…“ eine für Schwietert ungewohnte Kargheit. Er ist Biopic und Happening-Movie zugleich. Zum einen eine intime Annäherung an den 1953 geborenen Drummond, der, obwohl er dies erklärterweise nicht gern tut, doch freimütig einiges aus seinem Leben berichtet und Schwietert zum Beispiel bei einem Besuch in einer Schulklasse über die Schultern schauen lässt. Den roten Faden aber bildet das im April 2013 abgeschlossene Projekt „The 17“. Es führt Drummond von der britischen Ost- zur britischen West-Küste. Drummond bittet unterwegs einzelne Menschengruppen – Feldarbeiter, Taxifahrer, Angestellte einer Porzellanfabrik, Insassen eines Altersheims, Pub-Besucher – drei Minuten lang eine kurze Melodie zu singen. Er zeichnet die Musik auf, fügt die verschiedenen Stimmen im Computer zu einem Choral, spielt diesen auf freiem Feld einmal ab und zerstört den Track danach. So selbstverständlich wie Schwietert dem Zuschauer dieses finale Konzert im Ton vorenthält, so selbstverständlich lässt er Drummond das letzte Wort. Der lädt die Zuschauer unverbrämt zum „Score: Pulse“ ein. Was danach folgt, ist ein kurzer beglückend interaktiver Kino-Moment – der allein den Kinogang mehr als bloß lohnt.
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