Die tödliche Maria

Drama | Deutschland 1993 | 107 Minuten

Regie: Tom Tykwer

Eine seit dem Kindbett-Tod ihrer Mutter von ihrem gelähmten Vater und später auch von ihrem Macho-Ehemann unterdrückte Frau flüchtet sich in eine imaginäre Brieffreundschaft und skurrile Sammlerleidenschaft, bis sie in ihrem menschenscheuen Nachbarn eine verwandte Seele kennenlernt und sich auf tragische Weise von ihren Zwängen "befreit". Ein ganz auf die visuelle Wirkung hin inszeniertes Spielfilmdebüt von bedrückender Intensität, dessen kameratechnische Ambitionen zwar nicht immer frei von Manierismen sind, stets aber vom Talent des Autors zeugen, eine Geschichte filmisch aufzulösen. Auch schauspielerisch überzeugend. - Ab 16.
Zur Filmkritik

Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
1993
Produktionsfirma
Liebesfilm/ZDF
Regie
Tom Tykwer
Buch
Tom Tykwer
Kamera
Frank Griebe
Musik
Tom Tykwer · Klaus Garternicht
Schnitt
Katja Dringenberg
Darsteller
Nina Petri (Maria) · Katja Studt (Maria mit 16) · Juliane Heinmann (Maria mit 10) · Josef Bierbichler (Vater) · Peter Franke (Heinz)
Länge
107 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 16; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Drama
Externe Links
IMDb | TMDB | JustWatch

Diskussion
Maria, eine verhärmt wirkende Mittdreißigerin, lebt in ihrer tristen Mietwohnung wie in einem Gefängnis. Ihren um Jahre älteren Mann Heinz interessiert eigentlich nur, ob das Essen auf dem Tisch steht. Ab und zu benutzt er sie sexuell, was Maria lustlos über sich ergehen läßt. Obwohl Heinz sie finanziell knapp hält, zweigt Maria manchmal etwas vom Haushaltsgeld ab und versteckt es in einer Holzfigur, dem Talismann "Fomino". Der zweite "Wärter" ist ihr gelähmter Vater, der im Dachzimmer wohnt. Er quält sie genauso wie ihr Mann, aber ihre Schuldgefühle - die Lähmung trat ein, als er sie als 10jährige beim Küssen mit einem Schulkameraden überraschte - lassen keinen Ausbruch zu. So flüchtet sie sich in Briefe an "Fomino", die sie hinter einer Vitrine versteckt, sammelt tote Fliegen und entwickelt telekinetische Fähigkeiten. In dem schrulligen Nachbarn Dieter, der ebenfalls einer Sammlerleidenschaft frönt, entdeckt sie einen Seelenverwandten - und ganz allmählich bahnt sich zwischen ihnen eine Beziehung an. Während ihr Mann eines Tages "Fomino" aufbricht, um seine Spielschulden zu bezahlen, "spürt" sie dies und bricht auf der Straße zusammen. Aus ihrer Ohnmacht erwacht, beschließt sie, endlich ihr Leben zu ändern. Zuerst einmal arbeitet sie ihre Vergangenheit auf, indem sie die an "Fomino" geschriebenen Briefe liest und sich all die qualvollen Stationen ihres Lebensweges ins Gedächtnis zurückruft. Der einzige Ausweg scheint die Trennung von Mann und Vater zu sein, die auch auf tödliche Weise zustandekommt. Als Dieter wenig später die von Fliegen umschwirrte Leiche von Heinz entdeckt, flüchtet er, und Maria stürzt sich aus dem Fenster. Aber das ist noch nicht das Ende.

"Die tödliche Maria" ist das Spielfilmdebüt eines "Film verrückten". Tom Tykwer (1965 geb.) dreht seit seiner Kindheit Super-8-Filme und verbringt seine Freizeit im Kino. Ähnlich wie seine Filmfigur Dieter hat er geradezu manisch (Film-)Material gesammelt, seine Leidenschaft zum Lebensinhalt gemacht. Später leitete er dann ein Programmkino und drehte Fernsehfeatures über von ihm verehrte Filmregisseure. Tykwer hat (mit einem Co-Musiker) den Soundtrack selbst komponiert und eine Art minimalistische Horror-Symphonie geschaffen, die den alltäglichen Bildern kontrapunktisch gegenübersteht, die innere Spannung der Personen aber um so mehr betont. Daß er dabei auch mal allzu sehr in die Tasten greift und nervenaufwühlend mit schräger Kameraeinstellung unheilvoll auf den bettlägrigen Vater zufährt, der dann nur ein aggressives "Ich muß mal" von sich gibt, zeigt ebenso wie die allzu aufgesetzt wirkende "Alien-Geburt" Marias einen allzu beliebigen Griff in die eigene Kino-Erinnerungskiste. Auch das Hervorheben alltäglicher Gegenstände wie Wasserkessel oder Telefon durch Großaufnahmen, die - unterlegt mit einer Krimi-Musik - aus einer harmlosen Tischdeckszene einen kleinen Psycho-Thriller machen, gerät ab und an in die Nähe des Manierismus. Aber dann gelingen Tykwer wieder geniale Bildauflösungen wie das erste Telefonat Marias mit Dieter, als sie sich wie um die eigene Achse vor der Kamera dreht und damit ihre innere und äußere Gefangenheit deutlich macht. Solch einen visuellen Blick sah man lange nicht mehr im allzu wortlastigen deutschen Film, und hätte Tykwer mit einem erfahreneren Produzenten als dem ebenfalls debütierenden Stefan Arndt zusammengearbeitet, wäre dieses Talent sicherlich um die "Kinderkrankheiten" herumgeschifft worden. Erstaunlich sicher zeigt sich Tykwer schon in der Führung der Schauspieler, wobei vor allem der bei Achternbusch so oft dilettierende Josef Bierbichler hier äußerst überzeugend spielt. Ohne die disziplinierte Leistung der Hauptdarstellerin Nina Petri schmälern zu wollen - ihr 16jähriges Alter Ego wird von Katja Studt noch um eine Nuance wirkungsvoller verkörpert. Peter Franke als "Macho-Ehemann" gleitet trotz der eindimensionalen Rollenanlage nie ins Klischee ab, während Joachim Krol etwas mehr den menschenscheuen als den skurillen Zug seiner Figur trifft. Die mit gedämpftem Licht und blassen Farben die Atmosphäre der "Wohnungszelle" stimmig einfangende Kamera fügt sich ebenso wie der auf den Punkt genaue Schnitt nahtlos in diese doch erstaunliche Ensemble-Leistung. Vielleicht entdeckt jetzt einer der wenigen großen deutschen Produzenten das Talent Tykwers und gibt ihm unter regulären Arbeitsbedingungen die Chance zu einem großen Kinofilm.
Kommentar verfassen

Kommentieren