Drama | Niederlande/Belgien/Deutschland 2017 | 90 Minuten

Regie: Nanouk Leopold

Ein 15-jähriger Junge versucht seine knapp doppelt so alte Mutter aus ihrer Heroin-Abhängigkeit zu befreien und zum Entzug zu bewegen. Doch die erneut schwangere Frau will weder für sich noch für ihn Verantwortung übernehmen. Das im Rotlichtviertel von Rotterdam angesiedelte Jugenddrama fokussiert großteils in Naheinstellungen auf den Heranwachsenden, der sich zwischen kindlicher Sehnsucht und jugendlicher Entschlossenheit selbst überfordert. Der herausragend gespielte Film meidet alle Klischees und skizziert die wortlose Distanzlosigkeit einer außergewöhnlichen Mutter-Kind-Beziehung so komplex wie bisweilen auch recht schmerzhaft. - Sehenswert ab 16.
Zur Filmkritik

Filmdaten

Originaltitel
COBAIN
Produktionsland
Niederlande/Belgien/Deutschland
Produktionsjahr
2017
Produktionsfirma
Circe Films/A Private View/Coin Film/VPRO Television/The Film Kitchen
Regie
Nanouk Leopold
Buch
Stienette Bosklopper
Kamera
Frank Van den Eeden
Musik
Harry de Wit
Schnitt
Katharina Wartena
Darsteller
Bas Keizer (Cobain) · Naomi Velissariou (Mia) · Wim Opbrouck (Wickmayer) · Dana Marineci (Adele) · Cosmina Stratan (Jadwiga)
Länge
90 Minuten
Kinostart
13.09.2018
Fsk
ab 16; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Drama | Jugendfilm
Externe Links
IMDb | TMDB | JustWatch

Diskussion

Melancholische Gitarrenriffs begleiten ein Spiel aus Licht und Farben, das immer stärker organische Form annimmt. Schließlich wird der Körper eines Neugeborenen sichtbar, hilflos und verletzlich in den Händen der Ärzte, die sofort wieder in der Unschärfe verschwinden. Die niederländische Regisseurin Nanouk Leopold setzt im Vorspann zu ihrem tief berührenden Jugenddrama „Cobain“ eine Szene an den Anfang, die für jeden Menschen die Basis aller Erfahrung bildet: der mütterliche Körper und die Entbindung von ihm. Für den 15-jährigen Protagonisten, eindringlich gespielt von Bas Keizer, ist die Loslösung von seiner Mutter allerdings ebenso unmöglich wie eine Beziehung zu ihr, denn Mia, die er zu keinem Zeitpunkt Mutter nennt, ist von Heroin abhängig und prostituiert sich dafür. Ihr Sohn Cobain, den sie nach dem legendären Sänger der Band „Nirvana“ benannt hat, befindet sich mittlerweile in der Obhut des Jugendamtes und soll demnächst zu einer warmherzigen Pflegefamilie gegeben werden. Dennoch zieht es den Heranwachsenden in das raue Rotlichtmilieu Rotterdams, auf der Suche nach seiner leiblichen Mutter, die nichts mehr zu geben hat und dennoch erneut ein Kind erwartet. Cobain folgt ihr durch schäbige Zimmer im Hafen und bei ihren selbstzerstörerischen Streifzügen durch die Stadt, in der Hoffnung, sie zu einem Entzug zu bewegen. Doch Mia weigert sich in jeder Hinsicht, Verantwortung zu übernehmen. Cobain hingegen ist wild entschlossen, seine Mutter vor sich selbst zu retten. Er gerät dabei immer mehr in die Rolle eines Erwachsenen, die er nicht ausfüllen kann: Er räumt auf, wäscht und putzt, ermahnt und setzt Grenzen. Auf der Suche nach Arbeit wendet er sich an ihren ehemaligen Zuhälter Wickmayer, der ihn in den Kreislauf von Ausbeutung und Abhängigkeit hineinzieht. Wie ein Omen lastet der Name von Kurt Cobains auf dem Jungen, der von Geburt an einem destruktiven Strom ausgesetzt ist und nun davon fortgerissen zu werden droht. Dem steht aber die unermüdliche Suchbewegung nach der Liebe seiner Mutter entgegen. Sie wird für Cobain schließlich zur Entscheidung für das Leben. Leopold zeigt diesen inneren Kampf in atmosphärischen Naheinstellungen von Cobains Gesicht vor unscharfem Hintergrund, auf dem sich kindliche Sehnsucht mit jugendlicher Entschlossenheit vermengen. Manchmal droht der Körper des Jungen selbst in die Unschärfe zu geraten, in den Sog der auflösenden Erfahrungen, von denen seine Mutter bestimmt wird. Die ganze Ambivalenz ihrer Beziehung zeigt sich im Spiel von warmen und kalten Farben, die die Bilder durchdringen und jeder Einstellung eine ganz besondere Atmosphäre verleihen. Die Inszenierung vermeidet alle gängigen Klischees, die mit dem Rotlichtmilieu assoziiert werden, sondern zeigt es in seiner banalen Alltäglichkeit. Es geht nicht um die sensationelle Inszenierung eines Kiezes und seiner Gestalten, sondern um die Komplexität einer ganz besonderen Mutter-Kind-Beziehung, die zugleich etwas sehr Universelles über die Bedeutung primärer Erfahrungen zu erzählen weiß. Auch der Erzählfluss orientiert sich eher an Cobains Wahrnehmung und schwankt zwischen innerer Getriebenheit und melancholischer Schwere, die die Kamera in langen Einstellungen verdichtet und aus dem Funktionszusammenhang der Handlung herauslöst. Über die Hintergründe der Charaktere wird kaum etwas erzählt oder in Dialoge übersetzt; es ist ihre Körperlichkeit, die im Vordergrund steht und die ihre Bezogenheit aufeinander deutlich werden lässt. In den Blicken und Gesten zwischen Cobain und seiner Mutter erzählt sich ihre Geschichte in einer Distanzlosigkeit, die stellenweise recht schmerzhaft anzusehen ist, ohne je aufdringlich zu sein. Wie in „Brownian Movement“ (fd 40 532) und „Oben ist es still“ (fd 41 750) gelingt es Nanouk Leopold ohne viele Worte, den kompletten Kosmos einer Beziehung zu entfalten.

Kommentar verfassen

Kommentieren