Der sechste Kontinent (2018)

Dokumentarfilm | Deutschland/Österreich 2018 | 84 Minuten

Regie: Andreas Pichler

In der Nähe von Brixen finden Menschen, die sonst nirgendwo unterkommen, in einem selbstverwalteten Anwesen für eine Weile ein Zuhause. Fünfzig Gestrandete aus zwanzig Nationen teilen sich ein altes Haus, wobei sie tagsüber von ein paar Helfern unterstützt werden. Als das durch Spenden und gemeinnützige Aktionen unterhaltene Gebäude einem Neubau weichen muss, gerät der soziale Mikrokosmos in eine Schieflage. Der über einen längeren Zeitraum entstandene Dokumentarfilm erzählt vom Weitermachen in schwierigen Zeiten und vom aufreibenden Miteinander. Die Inszenierung ist dabei mehr an pragmatischer Lebenshilfe als an einer gesellschaftsverändernden Utopie interessiert. - Sehenswert ab 14.
Zur Filmkritik

Filmdaten

Originaltitel
DER SECHSTE KONTINENT
Produktionsland
Deutschland/Österreich
Produktionsjahr
2018
Produktionsfirma
Elemag Pic./Miramonte Film/ORF/Rai Südtirol
Regie
Andreas Pichler
Buch
Andreas Pichler
Kamera
Susanne Schüle · Martin Rattini
Musik
Jan Tilman Schade
Schnitt
Nela Märki
Länge
84 Minuten
Kinostart
07.06.2018
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Dokumentarfilm
Externe Links
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Über mehrere Jahre entstandener Dokumentarfilm über ein selbstverwaltetes Anwesen in Brixen, als Erzählung vom Weitermachen in schwierigen Zeiten und vom aufreibenden Miteinander.

Diskussion

Das mächtige alte Haus ragt über der Stadt Brixen in Südtirol in den Himmel. Es beherbergt ein einzigartiges soziales Projekt, das „Haus der Solidarität“. Die Betreiber verzichten bewusst auf öffentliche Gelder; stattdessen setzen sie auf Spenden und gemeinnützige Aktionen. Die Bewohner zahlen keine Miete, sondern arbeiten in der Küche, putzen, gehen einkaufen oder kümmern sich um den Garten. Das Zusammenleben ist so gestaltet, dass sich niemand entziehen kann. Im „Haus der Solidarität“ leben jene, die sonst nirgends unterkommen, weil sie als problematisch und unerwünscht gelten: Obdachlose, Arbeitslose, Alkoholiker und Flüchtlinge aus mehr als zwanzig Nationen. Fast 50 Menschen finden hier eine vorübergehende Heimat. Unter ihnen sind Erwin aus Südtirol, ein Ex-Alkoholiker und ehemaliger Häftling; die Süditalienerin Sumi, die vor den Aggressionen und Nachstellungen ihres Ex-Freundes geflohen ist; Ousman, ein politischer Flüchtling aus Mali, der seine Augen mit einer Maske bedeckt und schwer an seinen Erinnerungen trägt. Oder Hatem, ein ausgebildeter Koch, der durch die Wirtschaftskrise arbeits- und obdachlos geworden ist und seine Frau und Kinder nach Tunesien zurückschicken musste. Für ihn ist das Haus oberhalb von Brixen mit seinen unterschiedlichen Bewohnern ein eigener, sechster Kontinent. Tagsüber sind zwei Sozialarbeiterinnen im Haus, Kathi und Miriam, sowie zwei ehrenamtliche Helfer, Alexander und Karl. Alle sind mit großem Engagement dabei, aber auch mit vielen Frustrationen: „Die Neuankömmlinge aus Afrika sind optimistisch; doch nach einem Jahr folgt häufig der Absturz, sie finden keine Arbeit, keine Wohnung“, sagt einer der Helfer. „Dann ist die Hausleitung an allem schuld, und sie grüßen nicht einmal mehr.“ Die Betreuung ist harte Arbeit; am Ende bleibt wenig übrig vom multikulturellen Idealismus. Auch unter den Insassen gibt es Spannungen; Hatem klagt über üble Nachrede. Sein Name wurde auf allen Listen durchgestrichen; viele sind unruhig und misstrauisch. Die Sozialarbeiter erhalten gelegentlich auch anonyme Drohbriefe. „Da liegt viel Sprengstoff für die Gesellschaft drin, weil das nicht aktiv angegangen wird“, sagt einer der ehrenamtlichen Mitarbeiter. Die Tage in dem alten Haus sind allerdings gezählt; das Gebäude soll abgerissen werden, um Platz für lukrativere Neubauten zu machen. Private Spender und ausnahmsweise auch das Land Südtirol sollen ein neues Gebäude finanzieren. Allerdings können nicht alle mit in den Neubau. Das trägt viel Unruhe unter die Menschen. Erwin erlebt einen Rückfall: „Während ich trinke“, sagt er, „löst sich das Rätsel schon. Aber danach ist alles viel schlimmer.“ Anderen gelingt der Absprung, sie finden Arbeit und eine Wohnung. Auf der Fassade des leeren Hauses prangt ein Schriftzug: „DANKE – GRAZIE“. Ein Helfer sagt nachdenklich: „Lasst uns die Feindbilder zurücklassen, die großen und die kleinen.“ Der Dokumentarist Andreas Pichler begleitet einen vielschichtigen sozialen Mikrokosmus und erzählt vom Weitermachen in schwierigen Zeiten, auch vom aufreibenden Miteinander, was nichts mit anrührendem Sozialkitsch zu tun hat. Denn der sechste Kontinent ist keine Insel der Seligen, keine Utopie einer besseren Welt. In Zeiten der Wirtschaftskrise und einer sich sozial polarisierenden, zunehmend fremdenfeindlicheren Gesellschaft wächst nicht nur die Zahl der Menschen, die aus der Bahn geworfen werden, sondern wachsen auch die Probleme in den Projekten, die sich um sie kümmern. So dokumentiert der Film eher pragmatische Lebenshilfe denn eine gesellschaftsverändernde Utopie. Vielleicht ist die ursprüngliche Euphorie der Einsicht in die Notwendigkeit gewichen. Was dennoch bleibt, ist der Charme aktiver Nächstenliebe.

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