Die Kinder der Utopie

Dokumentarfilm | Deutschland 2019 | 84 Minuten

Regie: Hubertus Siegert

Was bleibt von Inklusion, wenn die Schule endet? Inwiefern prägt das gemeinsame Lernen von behinderten und nicht-behinderten Kindern fürs Leben? 14 Jahre nach seiner Dokumentation „Klassenleben“ (2005) trifft der Regisseur Hubertus Siegert die Protagonisten von damals wieder. In sechs Porträts verwebt er Rückblick, gezielte Reflexion und Momentaufnahmen aus der Gegenwart. In Szenen, in denen sich die einstigen Klassenkameraden wiederbegegnen und miteinander ins Gespräch kommen, klingt eine Art Bilanz an. Der Film wirft ein einnehmendes Schlaglicht auf eine sich suchende junge Erwachsenengeneration und zeigt neben Grenzen insbesondere die Chancen auf, die inklusive Schulen bieten können. - Ab 12.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2019
Produktionsfirma
S.U.M.O. Film
Regie
Hubertus Siegert
Buch
Hubertus Siegert
Kamera
Thomas Schneider · Marcus Winterbauer · Frank Marten Pfeiffer · Michel Links
Musik
F. S. Blumm
Schnitt
Philipp Schindler
Länge
84 Minuten
Kinostart
15.05.2019
Fsk
ab 0; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 12.
Genre
Dokumentarfilm
Externe Links
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Heimkino

Verleih DVD
Zorro (16:9, 1.78:1, DD5.1 dt.)
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Fortsetzung der Dokumentation „Klassenleben“ (2005), in der Regisseur Hubertus Siegert nach 14 Jahren ehemalige Schüler einer integrativen Klasse mit nicht-behinderten und behinderten Kindern aufsucht und schlaglichtartig nach den Folgen des inklusiven Lernens fragt.

Diskussion

Kino, Kampagne oder die Verknüpfung von beidem zu einer wirkungsvollen Strategie? Hubertus Siegert bringt seine neue Dokumentation „Die Kinder der Utopie“ bundesweit nur an einem einzigen Tag in die Kinos. Durch diesen Bruch mit den Gepflogenheiten der Branche will er dem randständigen Genre des Dokumentarfilms zu erhöhter Aufmerksamkeit verhelfen.

Organisiert wird der einmalige Aktionsabend am 15. Mai 2019 nicht von einem Filmverleih, sondern von einem Verein für inklusive Bildung. Die Vorführungen sollen, so die Ankündigung auf der Website des Films, in ein Rahmenprogramm eingebettet werden, das lokale Akteure vor Ort gestalten. Ideen und Freiwillige sind willkommen.

Die Bündelung von Events, Menschen und Interessen will nicht nur dem Film als Film eine öffentlichkeitswirksame Plattform bieten, sondern auch seinem Gegenstand Raum verschaffen. Denn „Die Kinder der Utopie“ braucht Unterstützung von außen, um sichtbar zu werden. Geht es doch mit der inklusiven Bildung um eine der größten aktuellen Herausforderungen des deutschen Schulsystems.

Wie hat das inklusive Lernen die Schüler geprägt?

Als Hubertus Siegert 2005 in seinem vielbeachteten Vorgängerfilm Klassenleben den Alltag in einer Berliner Grundschule dokumentierte, in der behinderte und nichtbehinderte Kinder gemeinsam lernen, gab es wenig vergleichbare Schulen. Inklusives Unterrichten galt als umstritten. Das ist es heute noch, aber seit 2009 ist Inklusion an deutschen Schulen Pflicht, wobei mit der Praxis vielerorts noch gerungen wird und die Umsetzung teilweise im Argen liegt.

Inwiefern inklusives Lernen Menschen prägen kann, lässt sich 14 Jahre nach „Klassenleben“ in „Die Kinder der Utopie“ beobachten. Aus den Schülern von einst sind junge Erwachsene geworden, die ihre eigenen Wege einschlagen. Sechs von ihnen kommen Kurzporträts, die ineinander verflochten sind, zu Wort.

Diese Wiederaufnahme der filmischen Beobachtung, die zugleich auch für die Protagonisten eine Wiederbegegnung ist, inszeniert Siegert wie eine Art Kettenbrief. Anstelle des Briefs findet allerdings jeweils ein Besuch statt. Nach Einzelaufnahmen mit Protagonistin 1 klopft Protagonist 2 an die Tür. Dieser wird ebenfalls eine Zeitlang allein begleitet, bevor er auf Protagonist 3 trifft.

Im Verlauf dieser kreisförmigen Bewegung, an deren Ende es zu einer gemeinsamen Begegnung aller kommt, zeichnet der Film schlaglichthaft das Bild einer Generation. Da sind zum Beispiel Luca, die Umweltwissenschaften studiert, der angehende Musical-Darsteller Dennis und Christian, der nach abgebrochenen VWL-Studium und Coming-out eine neue Perspektive sucht.

Suchende sind auch Marvin, Johanna und Natalie, bei denen es infolge ihrer Defizite schon immer etwas langsamer voranging. Sie bewerben sich, testen aus, werden getestet. Auf dem Weg zur eigenen Wohnung und zum Traumberuf müssen sie einen langen Atem beweisen – sei es gesundheitlich durch eine Operation oder durch Ausbildungsumwege über die Altenpflege.

Gewappnet für den Umgang mit Andersheit

Das Aufeinandertreffen von Kamera und Mensch sowie der Menschen untereinander zeigt Individuen mit unterschiedlichen Stärken und Schwächen, die sich alle in einer ähnlichen Lebensphase im gleichen System bewegen – dem der Berufsbildung und des Eigenständig-Werdens im Berlin. Unterschwellig wird deutlich, inwiefern bei den einen vieles möglich erscheint, bei den anderen die Möglichkeiten aber überschaubarer sind oder erst mühsam erkämpft werden müssen.

Doch dies ist nicht die Nachricht, die der Film überbringen will, da sie genau genommen in unserer Gesellschaft der ungleichen Chancen schon vorher feststeht. Vielmehr geht es darum, den Blick der sechs jungen Frauen und Männer auf die Welt und ihren Umgang miteinander zu erfassen. Dies äußert sich zunächst in Statements: Weil Dennis Schüler einer Inklusionsklasse war, fühle er sich heute für den Umgang mit Andersheit besser gewappnet, etwa mit den unterschiedlichen Geschlechtsidentitäten seiner Musical-Kommilitonen.

Ein weiterer Fokus des neuen Films, der mit Ausschnitten aus „Klassenleben“ unterschnitten ist, liegt auf Christians damaligen Schwierigkeiten, als neues Kind in der Klasse seinen Platz zu finden. Im Moment des größten Kummers schenkt ihm der lernbehinderte Marvin Verständnis, Mitgefühl und seine Freundschaft. Auch heute hören sie einander aufmerksam zu.

Im Dialog von Archivmaterial und Gegenwartsbildern wird offenbar: Die Erfahrung von Selbstwertgefühl, Gemeinschaft und gegenseitiger Stärkung, die alle Protagonisten teilen, ist heute in der Vertrautheit und Selbstverständlichkeit weiterhin sichtbar, mit der sie sich wiederbegegnen – selbst wenn durch die Reigen-Struktur des Films immer etwas Konstruktion mitschwingt.

Während „Klassenleben“ dem Publikum durch Langzeitbeobachtung das Gefühl vermittelte, selbst mit im Klassenraum zu sitzen und einer Entwicklung zu folgen, präsentiert „Die Kinder der Utopie“ lediglich kurze Momentaufnahmen. Auf den ersten Blick mag der Film deshalb für sich genommen weniger reichhaltig und aussagekräftig erscheinen. Interessant erscheint er besonders als Bestandteil einer Reihe von Filmen, die sich mit inklusiven Grundschulen und dem Danach befassen, wie etwa auch Hella Wenders’ Berg Fidel – eine Schule für alle (2012) und Schule, Schule – Die Zeit nach Berg Fidel (2017).

Welche Chancen bietet Inklusion für alle?

Beiläufig und vor allem dank seiner offenherzigen Protagonisten stellt „Die Kinder der Utopie“ dennoch einige der großen Fragen, die die gegenwärtige Bildungspolitik bestimmen. Welche Chancen bietet Inklusion für Behinderte wie für Nicht-Behinderte, sowohl in Bezug auf fachliche Wissens- und Kompetenzvermittlung als auch sozial-emotional?

Eine Antwort klingt an: Wenn Natalie sich trotz Trisomie 21 heute selbstständig im Alltag zurechtfindet, lesen, schreiben und vieles mehr kann, und Luca in ihrer Ansprache keinen Unterschied zwischen Natalie oder Dennis macht, dann ist dies, so legt es der Film nahe, womöglich das Ergebnis der Gleichheit und des grundsätzlichen Zutrauens in die Fähigkeiten aller, die gemeinsames Lernen bestimmen. Darüber kann hoffentlich auch noch nach dem 15. Mai diskutiert werden.

Mehr Informationen zum Film und der Kampagne zur bundesweiten Kinopremiere mit Rahmenprogramm am 15. Mai 2019: https://www.diekinderderutopie.de/film

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