Drama | Portugal 2019 | 124 Minuten

Regie: Pedro Costa

Drei Tage nach der Beerdigung ihres Mannes kommt seine Ehefrau in Lissabon an, um die Dinge des Verstorbenen zu regeln, der sie vor vielen Jahren für ein angeblich besseres Leben auf den Kapverden zurückgelassen hat. In seiner ärmlichen Behausung im Elendsviertel von Lissabon führt sie somnambule Monologe, in denen sich Erinnerung, Anklage und utopische Momente vermischen. Die Titelfigur spielt dabei eine fiktive Version ihrer selbst. Ein bildgewaltiger, aus nuancierten tiefschwarzen Farbtönen komponierter Blick auf Existenzen am Rande der portugiesischen Gesellschaft. Die Schatten der kolonialen Vergangenheit manifestieren sich dabei an den mit minimalen Lichtquellen virtuos in Szene gesetzten Schauplätzen, Gesichtern und Körpern. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
VITALINA VARELA
Produktionsland
Portugal
Produktionsjahr
2019
Produktionsfirma
OPTEC Sociedade Óptica Técnica
Regie
Pedro Costa
Buch
Pedro Costa · Vitalina Varela
Kamera
Leonardo Simões
Schnitt
João Dias · Vítor Carvalho
Darsteller
Vitalina Varela (Vitalina Varela) · Ventura (Ventura) · Manuel Tavares Almeida · Francisco Brito · Imídio Monteiro
Länge
124 Minuten
Kinostart
10.09.2020
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Drama
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Eine Frau von den Kapverden trauert um ihren toten Ehemann, der sie vor vielen Jahren allein zurückgelassen hat, um in Lissabon für eine bessere Zukunft zu sorgen.

Diskussion

Der nächtliche Beerdigungszug kommt aus der pechschwarzen Tiefe des Bildes und sieht aus wie eine Prozession von Untoten. Rechts und links hohe Mauern, hinter denen ein paar Kreuze wie Gerippe hervorragen; die Männer schleppen sich mehr, als dass sie gehen, einige haben Krücken, der zittrige Pastor muss von beiden Seiten gestützt werden, er bricht schließlich zusammen. Der Verstorbene, Joaquin, hinterließ nicht viel mehr als ein paar blutige Laken in einem ärmlichen Zimmer in Lissabon; seine wenigen Habseligkeiten verbrennt man in einer Tonne im Hof. Die Nachbarn erzählen von seinen letzten Tagen: Der Sterbende befand, seine in Kap Verde lebende Frau zu rufen, lohne nicht.

40 Jahre musste Vitalina Varela auf ein Flugticket nach Portugal warten. Mit nackten Füßen steigt sie aus dem Flugzeug, auch sie eine Schattengestalt unter Schattengestalten. „Hier in Portugal gibt es für dich nichts ... Geh zurück nach Hause“, sagt man ihr. Als sie zum ersten Mal die Behausung ihres Mannes betritt, stößt sie sich prompt den Kopf am Türstock. Was für ein erbärmliches Quartier, mehr Keller als Wohnung. Die mit brachialen Eisengittern verkleideten Fenster sehen wie Gullys aus, die Wände sind roh, die Böden ungefliest, die Zimmer trennt nicht mehr als ein Stück Stoff von der Decke. Auch das Dach ist undicht: Beim Duschen fällt Vitalina ein Stein auf den Kopf.

Drei Tage nach der Beerdigung

Joaquin hat sie damals ohne Abschied in der ehemals portugiesischen Kolonie Kap Verde schwanger zurückgelassen, angeblich für ein besseres Leben. Jetzt hat man nicht einmal mit der Bestattung auf sie gewartet. Drei Tage kommt sie zu spät.

Wie schon in seinen vorherigen Arbeiten verbindet der portugiesische Auteur Pedro Costa in „Vitalina Varela“ auf einzigartige Weise Momente oder vielmehr Fragmente einer Milieustudie mit cinematischer Überformung. Themen wie Migration und diasporische Identität sind schmerzhaft anwesend, ohne dass sie in den Dramaturgien des Erzählkinos aufgingen. Stattdessen manifestieren sich die Folgen der kolonialen Vergangenheit an Schauplätzen, Gesichtern und Körpern.

Pedro Costa filmt schon seit vielen Jahren mit kleinem Team und ohne Drehbuch; die Geschichten entstehen in enger Zusammenarbeit mit den Protagonisten, meist Zugewanderte von den Kapverden, die in den Slums von Lissabon leben, Menschen wie Vitalina Varela. Als Nebenfigur tauchte sie bereits in „Cavalo Dinheiro“ (2014) auf. Flüsternd berichtete sie von ihrer tragischen Familiengeschichte, wobei sich Dokumente wie Geburts- und Sterbeurkunden oder der Brief einer Bestattungsfirma in ihre Erzählung mischen. Der aktuelle Film „Vitalina Varela“ ist nun ganz ihrer Lebensgeschichte gewidmet.

In somnambulen Monologen beklagt die Witwe die Verwahrlosung der Männer, ihre Komplizenschaft und Lieblosigkeit; vor allem aber: ihre Abwesenheit. Aus der Erinnerung rekonstruiert sie das gemeinsame Haus auf dem Inselstaat Kap Verde. Es ist anders als das Loch in Lissabon: solide, aus Ziegeln gebaut. Joaquin hat es nie gesehen.

Eine tiefschwarze Sakralität

„Vitalina Varela“ ist ein tiefschwarzer Film mit spärlichem Licht und dramatisierenden Hell-Dunkel-Effekten, die dem Chiaroscuro in der Malerei nahestehen (Pedro Costa reagiert auf Vergleiche mit den Renaissance-Malern allerdings ausgesprochen gereizt). Tatsächlich sind die Bilder kaum zu greifen, schon gar nicht mit den Begrifflichkeiten des Kinos, womöglich behilft man sich deshalb gerne mit Verweisen auf andere Medien. In langen Tableau-artigen Einstellungen modellieren sich Gesichter, Körper und Dinge aus dem Bildhintergrund, während die räumlichen Konturen verschwinden. Alles sieht irgendwie sakral aus: der kleine Altar mit Fotos und Kerzen ebenso wie ein paar Wäschestücke auf einer Leine oder das Kochgeschirr. Auch die drei Frauen, die mit Staubsauger und Putzeimern Vitalina auf dem Flughafen empfangen, muten wie Heilige an.

Die Bewegungen, Gesten und das Sprechen scheinen der irdischen Welt nicht wirklich anzugehören, sie sind schon ganz woanders. Bei aller Phantomhaftigkeit lebt „Vitalina Varela“ ganz von der Präsenz der Protagonistin, ihrem gleichermaßen ausdrucksstarken wie erschöpften Gesicht, ihrer Bitterkeit, die sich mit Zorn mischt.

Die Schatten der Lebenden

Pedro Costa hat mit den Mitteln der Digitaltechnik eine unverwechselbare Bildästhetik entwickelt, die mit jedem Werk noch verfeinerter anmutet. Das Elendsviertel mit seinen engen Korridoren und verbeulten Metalltüren filmt er wie ein Labyrinth aus Höhlen und Kerkern. Es ist eine Schattenwelt, in der die Lebenden wie Gespenster umherwandeln und die Verstorbenen einem keine Ruhe geben wollen.

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