The Remains - Nach der Odyssee

Dokumentarfilm | Österreich 2019 | 93 Minuten

Regie: Nathalie Borgers

Jenseits überstrapazierter Nachrichtenbilder ansetzender Dokumentarfilm über die langfristigen psychischen Folgen der Flüchtlingskrise. Die Vielschichtigkeit des Problems wird an prägnanten Beispielen greifbar gemacht: Fischer und Seenotretter kommen zu Wort, auf Mittelmeer-Inseln bemühen sich Gestrandete darum, unbekannte Opfer zu identifizieren, Überlebende tragen die Last der Verunglückten mit sich. Der Film lässt seinen Protagonisten viel Zeit, um von ihren Schmerzen zu erzählen, wobei sich immer wieder das Fehlen einer Sprache erweist, um Gefühle der Trauer und Traumatisierung formulieren zu können. Obwohl ihm ein übergeordnetes ästhetisches Konzept mangelt, zeigt er in eindringlichen Bildern das Ausmaß der humanitären Katastrophe. - Sehenswert ab 14.
Zur Filmkritik

Filmdaten

Originaltitel
THE REMAINS - NACH DER ODYSSEE
Produktionsland
Österreich
Produktionsjahr
2019
Produktionsfirma
Navigator Film
Regie
Nathalie Borgers
Buch
Nathalie Borgers
Kamera
Johannes Hammel
Musik
Özlem Bulut
Schnitt
Sophie Reiter
Länge
93 Minuten
Kinostart
26.09.2019
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Dokumentarfilm
Externe Links
IMDb | TMDB | JustWatch

Jenseits überstrapazierter Nachrichtenbilder ansetzender Dokumentarfilm über die langfristigen psychischen Folgen der Flüchtlingskrise. In eindringlichen Bildern zeigt er das Ausmaß der humanitären Katastrophe.

Diskussion

Das Abebben der Bilder von Geflüchteten, die auf den gefährlichen Routen ihr Leben riskiert oder sogar verloren haben, mag mit einer Mischung aus Hilflosigkeit und Verantwortungslosigkeit auf Seiten der Europäer zusammenhängen. Die österreichische Filmemacherin Nathalie Borgers setzt in „The Remains – Nach der Odyssee“ genau bei diesen Gefühlen von Ohnmacht an, die normalerweise zum Wegsehen verführen, und verwandelt sie in dokumentarische Bilder, die insistieren – so lange, bis das Ausmaß der humanitären Katastrophe an den europäischen Grenzen in seiner Vielschichtigkeit wieder sichtbar wird.

Dem Film ist ein Zitat aus der Sophokles-Tragödie „Antigone“ vorangestellt, mit ihrer unbedingten ethischen Forderung, den toten Bruder bestatten zu dürfen. Für mehr als 30.000 Menschen ist dieses Recht auf eine letzte Bleibe uneingelöst, denn ihre toten Körper liegen auf dem Grund des Mittelmeeres.

Ausgehend von dem Wenigen, was bleibt, wenn ein Menschenleben auf diese Weise genommen wird, folgt Borgers dem, was übrig geblieben ist, und denen, die an ihrem Verbleib im Leben zugrunde gehen.

Forensische Arbeit

Von der griechischen Insel Lesbos ist es scheinbar nur ein Steinwurf bis zur türkischen Küste, doch die klare Sicht aufs Meer täuscht, und die spitzen Felsen machen jeden Anlegeversuch zu einem gefährlichen Unterfangen. Schon 2009 gab es hier Schiffsunglücke mit unzähligen Toten, wie der sichtlich traumatisierte Fischer Stratos berichtet. Seit einem Jahrzehnt zieht er mit seinen Netzen immer wieder Leichname aus dem Wasser.

Wie man angesichts solcher kaum zu verarbeitender Eindrücke zu einem standardisierten Procedere findet, führen Mitarbeiter des Roten Kreuzes den überforderten Männern der griechischen Küstenwache vor. Mit Puppen wird in gemeinsamen Übungen simuliert, wie man mit den toten, oft verstümmelten Körpern verfährt, eine Akte aufnimmt, Erkennungsfotos anfertigt, die Leichensäcke richtig verschließt.

Es ist erschütternd, aber auch äußerst erhellend, wie der Film die Konsequenzen der durch die Flüchtlingskrise ausgelösten Nekro-Politiken dokumentiert: die zerschellten Schiffe, die noch immer zwischen den Klippen hängen, an den Strand gespülte Mobiltelefone, Berge von Rettungswesten, aus denen Geflüchtete, die überlebt haben, in minutiöser Arbeit kleine Taschen für Touristen nähen.

Borgers filmt provisorisch angelegte Friedhöfe, auf denen sich zahllose Gräber ohne Namen aneinanderreihen. Der Afghane Mohammadi Naïem ist bereits im Jahr 2002 auf Lesbos gestrandet und hilft mit, die Toten zu identifizieren, um angemessene Bestattungen zu ermöglichen. So konnten durch DNA-Proben die Namen von drei Kindern ermittelt werden, für die Naïem bei einem griechischen Steinmetz Grabsteine mit persischer Inschrift in Auftrag gibt.

Umgang mit dem Überleben

Eine kurdische Familie, die aus dem Kriegsgebiet in Syrien geflüchtet ist, hat dagegen noch keinen Ort für die Trauer gefunden. Die Kamera begleitet den jungen Farzad Jamil bei seinen Versuchen, die Behörden dazu zu bewegen, ein vor der türkischen Küste gesunkenes Boot zu bergen, auf dem 13 seiner Angehörigen ums Leben gekommen sind. Auch hier müssen Formulare ausgefüllt werden, obgleich die Mitarbeiter der NGOs immer wieder deutlich machen, dass man nicht viel tun kann, außer auf ein Handeln der Regierungen zu warten. Jamil hat in Österreich Asyl erhalten, doch viele Mitglieder seiner Familie sind beim Versuch, zu ihm zu kommen, auf der Überfahrt verunglückt. Nur der Vater und drei seiner Schwestern überlebten.

Borgers gibt Vater und Sohn viel Raum, um von ihrer Erschöpfung zu berichten, doch auch hier ist die Situation vielschichtig. Denn obwohl die Männer vor der Kamera zittern und sichtlich mit den Tränen ringen, wird doch deutlich, wie wenig sie mit ihren eigenen Gefühlen umgehen können. Dass dies nicht nur an der Traumatisierung liegt, wird in vielen kleinen Momenten wie dem Handkuss durch den Sohn deutlich. Die Selbstverständlichkeit patriarchaler Logik funktioniert nicht mehr; es gibt keine Vorstellung davon, dass es notwendig ist, mit anderen über die eigenen Erfahrungen zu sprechen, schon gar nicht mit einem Psychoanalytiker.

An keiner Stelle taucht die Frage nach der eigenen Verantwortung auf, eine Gruppe kleiner Kinder und eine hochschwangere Frau der riskanten Überfahrt durch Schlepper ausgesetzt zu haben. Den Männern erscheint ihr eigenes Leben wie eingefroren in einem endlosen Wartezustand, weil sie ihre Angehörigen nicht beerdigen können und stattdessen ihre unverarbeitete Trauer in sich begraben.

Lange Einstellungen machen die Folgen der Flucht sichtbar

Die Sichtbarmachung der vielfältigen Folgen von Flucht und klandestiner Migration über das Meer gelingt Borgers vor allem durch die enorme Länge der Einstellungen, in denen sich manchmal erst nach Minuten ihre Bedeutung erhellt. Vor allem durch die forensische Beobachtung von Materialien und Überresten entstehen eindringliche Bilder, die das Ausmaß der humanitären Katastrophe in ihrer stummen Tragik sichtbar machen.

Borgers verzichtet dabei auf ein übergeordnetes ästhetisches Konzept, wie es der Regisseur Gianfranco Rosi etwa in seinem Film „Seefeuer“ angewandt hat, was die Wirkung von „The Remains“ mitunter abschwächt. Was den Film dagegen unbedingt sehenswert macht, ist das unermüdliche Aufzeigen dessen, was ungelöst geblieben ist – und dazu auffordert, die Auseinandersetzung nicht aufzugeben.

Kommentar verfassen

Kommentieren