Die Sinfonie der Ungewissheit

Dokumentarfilm | Deutschland 2018 | 100 Minuten

Regie: Claudia Lehmann

Ein vom Hamburger Forschungszentrum DESY (Deutsche Elektronensynchrotron) ausgehender Filmessay, in dem der emeritierte Physikprofessor Gerhard Mack mit seinem naturwissenschaftlich begründeten Wirklichkeitsbegriff auf diverse andere Weltsichten trifft. Dabei sammelt der Film Impressionen aus dem Forschungskomplex und konfrontiert die unterschiedlichen Wahrnehmungen mosaikhaft, ohne sie auszudiskutieren. Im Endeffekt ergeben sich durch das assoziative Montageprinzip kurzweilige wie auch nachdenkliche Momente, die auch zu grundsätzlichen Fragen über Sprache und die Kommunikation zwischen unterschiedlichen Systemen vordringen. - Ab 16.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2018
Produktionsfirma
IXA Institut für experimentelle Angelegenheiten/Tamtam Film
Regie
Claudia Lehmann
Buch
Claudia Lehmann · Konrad Hempel
Kamera
Eike Zuleeg
Musik
Konrad Hempel
Schnitt
Marianne von Deutsch · Claudia Lehmann
Länge
100 Minuten
Kinostart
07.11.2019
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Dokumentarfilm | Filmessay
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Ein vom Hamburger Forschungszentrum DESY (Deutsche Elektronensynchrotron) ausgehender Filmessay, in dem der emeritierte Physikprofessor Gerhard Mack mit seinem naturwissenschaftlich begründeten Wirklichkeitsbegriff auf diverse andere Weltsichten trifft.

Diskussion

Man fühlt sich ein wenig erinnert an die „Muppet Show“. Zwei ältere Herren schlurfen in Richtung Vortragssaal. Sagt der eine: „Ich hoffe, dass er nicht zu viel String Theory bringt!“ Antwortet der andere: „Das hoffe ich auch! Aber er ist ja bekanntlich ein Freund von Supersymmetrie und String Theory.“ Er, das ist John Ellis, der den Begriff der „Theory of Everything“ geprägt hat und der jetzt eine super-anspruchsvolle Präsentation vorbereitet hat, um den versammelten Kolleginnen und Kollegen von seiner neuesten welterschütternden Entdeckung zu künden. Doch Waldorf und Statler im Auditorium stellen zunächst einmal zufrieden fest, dass man sich auf das „waldschratartige“ Äußere des geschätzten Kollegen immerhin verlassen könne.

Nach dem Vortrag diskutieren die beiden älteren Herren noch ein wenig über die Vor- und Nachteile der Tatsache, dass sich die Physik auf die Mathematisierung der Dinge zuungunsten einer Theorie komplexer Systeme kapriziert habe. Darüber hinaus werde es wohl zu kompliziert. Schade eigentlich, sagt der eine, eine Grundidee dazu hätte er schon… Er, das ist der seit vielen Jahren emeritierte Professor für theoretische Physik Gerhard Mack, der noch über ein Büro und erstaunliche Präsenz im Hamburger Forschungszentrum DESY (Deutsche Elektronensynchrotron) verfügt. „Die Sinfonie der Ungewissheit“ spielt auf dem DESY-Gelände und sammelt gewissermaßen im Windschatten von Professor Macks Umherstreifen Alltagsimpressionen dieses „Inbegriffs des Fortschritts“ (Mack).

Den Wirklichkeitsbegriff der Physik in andere Felder übertragen

Die Filmemacherin Claudia Lehmann hat selbst in Physik promoviert, bevor sie sich fürs Filmemachen entschied. Ihr Doktorvater war Gerhard Mack, ein interdisziplinär denkender Universalgelehrter, der einerseits den naturwissenschaftlich begründeten und experimentell bestätigten Wirklichkeitsbegriff der Physik schätzt, ihn andererseits jedoch gerne in weitere Erkenntnisfelder übersetzen würde. Was eben auch ein nicht zu unterschätzendes Sprachproblem impliziert. Wie verhält sich ein Mann, der nachsinnt, ob es eine universelle Sprache unabhängig von der menschlichen Spezies gibt, wenn er auf eine Schamanin oder einen Filmemacher trifft, der die theoretische Physik für „Magie“ hält und ausführt: „Meine Phantasie arbeitet anders!“

Ein simples „So ist die Welt!“ ist nach der „Sinfonie der Ungewissheit“ nicht mehr möglich, weil der Film ganz unterschiedliche Weisen der Weltwahrnehmung ganz unterschiedlicher Wahrnehmungskulturen kurz miteinander konfrontiert, aber eben gerade nicht auszudiskutieren versucht. Vielmehr sammelt der Film Impressionen aus dem Forschungskomplex und gerät eher zu einer materialistischen Meditation über Arbeitsteilung, wenn Mack über das Gelände flaniert und auf Handwerker trifft, die gewissermaßen den Boden bereiten für seine theoretischen Höhenflüge. Ein weiteres Highlight: die Gespräche zwischen Mack und seiner Lebensgefährtin, der Autorin, Heilpraktikerin und Hypnose-Coach Rosemarie Dypka, die routiniert ihre fundamentalen Differenzen ausbreiten. Man fühlt sich geradezu an Hannelore Hogers Augenzwinkern erinnert, wenn Dypka ihren Partner ermahnt, dass sich die spirituellen Bedürfnisse der Menschen nicht auf Formeln herunterbrechen lassen. Oder wenn sie darüber diskutieren, ob Schamanen selbst an ihre Regentänze glauben oder eher ihre soziale Funktion für die Gruppe reflektieren.

Ausgestellte Unschärfen

Wenn Mack derlei Gegenrede erfährt, lächelt er zumeist in sich hinein. Der Sinn des Lebens, so Dypka, sei eben kein Sachverhalt. In solchen Momenten, die nicht ohne Humor sind, erinnert Lehmanns Film an Arbeiten Alexander Kluges, der sich auch für die Arbeit im Vorfeld und im Hintergrund des Staatsaktes zum Begräbnis von Hanns-Martin Schleyer interessierte. Zudem ruft Hark Bohm Kluge in Erinnerung, wenn er einmal einwirft: „Die Geschichte entsteht im Kopf des Zuhörers.“ Was wiederum das assoziative Montageprinzip dieser „Sinfonie“ bestens beschreibt, zumal der Film selbst immer wieder mit ausgestellten Unschärfen arbeitet, die klarstellen, dass hier ein sehr subjektiver Blick bei der Auswahl der Impressionen herrscht.

Und dann ist da auch noch ein Ensemble von Musiker*innen um den Komponisten und Co-Regisseur des Films Konrad Hempel auf dem DESY-Gelände, das mit den Mitteln von Post-Rock, Drones, Improvisation und Neuer Musik eine Klanglandschaft mit den Geräuschen der Versuchsanlage zu produzieren versucht. Auch dies ein weiterer, jetzt musikalisch-ästhetischer Versuch, sich der Welt der Physik und ihren Fragen und Gegenständen zu nähern. Das klingt mitunter etwas epigonal nach den Einstürzenden Neubauten, bleibt aber glücklicherweise rein instrumental. Mack spricht einmal davon, dass die Akzeptanz von Nicht-Wissen eine grundsätzliche Voraussetzung wahrer Erkenntnis sei. Der Filmessay von Lehmann und Hempel versucht sich weniger an Antworten, sondern sucht zunächst einmal die Vielzahl von Perspektiven, aus denen sich Fragen stellen. Dies allerdings gerade in der gewählten freien Form höchst anregend.

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