Drama | Schweiz/Deutschland 2018 | 113 Minuten

Regie: Simon Jaquemet

Das Leben einer Mittvierzigerin gerät aus der Spur, als sie ihren früheren Verlobten, der vor 20 Jahren wegen Mordes in Gefängnis kam, auf der Straße zu erkennen glaubt. Ihr biederes Arrangement mit Familie und Freikirche, verdrängtem Seelenleben und dem Job in einem Forschungslabor erscheint zunehmend fraglich; außerdem quält sie die Frage, ob der Ex-Freund die Tat wirklich begangen hat. Das nüchterne, im Stil eines magischen Realismus erzählte Drama um Glaube, Wahn und Wirklichkeit kreist quälend intensiv um die inneren Kämpfe der überragend gespielten Hauptfigur, die auch tiefste Demütigungen mit einem inbrünstigen Willen kompensiert. - Sehenswert.
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Filmdaten

Originaltitel
DER UNSCHULDIGE
Produktionsland
Schweiz/Deutschland
Produktionsjahr
2018
Produktionsfirma
Horses/Augenschein Filmprod./ZDF/SRF/arte/Teleclub
Regie
Simon Jaquemet
Buch
Simon Jaquemet
Kamera
Gabriel Sandru
Schnitt
Christof Schertenleib
Darsteller
Judith Hofmann (Ruth) · Naomi Scheiber (Naomi) · Christian Kaiser (Hanspeter) · Thomas Schüpbach (Andreas) · Anna Tenta (Meike)
Länge
113 Minuten
Kinostart
05.12.2019
Fsk
ab 16; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert.
Genre
Drama
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Außergewöhnliches Seelendrama um eine Naturwissenschaftlerin, deren wohlgeordnetes Leben aus der Bahn gerät, als sie ihren ehemaligen Verlobten auf der Straße zu erkennen glaubt, der vor 20 Jahren wegen Mordes ins Gefängnis kam.

Diskussion

Der Schweizer Regisseur Simon Jaquemet hat schon mit seinem ersten langen Kinofilm, dem Jugenddrama „Chrieg“, einen nicht nur für Schweizer Verhältnisse inhaltlich wie gestalterisch aufwühlende Film inszeniert. Der Nachfolgerfilm „Der Unschuldige“ steht dem in nichts nach. Er kreist um die Seelenzustände, die eine Mittvierzigerin durchlebt, als ihr knapp zwei Jahrzehnte zuvor wegen Mordes verurteilter ehemaliger Verlobter frühzeitig aus der Haft entlassen wird.

Unter dem Siegel eines Glaubens lassen sich (nicht nur im Kino) die verrücktesten Geschichten erzählen. So auch die von Ruth (Judith Hofmann). Dabei beginnt alles ganz harmlos. In Ruths Leben ist alles bieder-bürgerlich, brav und bestens. Die Naturwissenschaftlerin ist verheiratet, lebt mit ihren beiden halbwüchsigen Töchtern und ihrem Gatten Hanspeter in einem Einfamilienhaus in einer nicht exakter bestimmten Vorortgemeinde.

Vieles liegt im Dunkeln

Das Haus, viel Beton, viel Glas, in der Einrichtung wenig persönlich, steht am Rande der Ortschaft, der Blick aus dem Wohnzimmer fällt auf herbstkahle Felder, in der Ferne dämmert ein Wald. Es gibt viel Grau im und ums Haus; im ganzen Film ist vieles grau, blau, braun und oder aschig getönt. Die Farben strahlen nicht; auch bildlich liegt vieles im Dunkeln. Kellerräume, unterirdische Gänge, Tiefgaragen, das Innere einer Kirche, eines Zeltes. Auch im Wald ist es dunkel, und vor allem – und immer wieder – in der Nacht.

Ruths Familie ist Mitglied einer christlichen Sekte oder einer freikirchlichen Glaubensgemeinschaft. Man geht zusammen zur Messe, betet zu Hause vor den gemeinsam eingenommenen Mahlzeiten. Abends sitzt man im Wohnzimmer zusammen und singt zur Gitarrenbegleitung von Hanspeter Lieder, wie man sie etwa von den Jugendtreffen in Taizé kennt. Die Töchter, Naomi und Aline, spätpubertär, gehen noch zur Schule. Hanspeter, der als Figur etwas blass bleibt, arbeitet irgendetwas; er steht dem Gemeindeprediger nahe.

Ruth arbeitet in einem Forschungslabor, in dem Tierversuche durchgeführt werden. Aktuell eine Ganzkörper- oder – das ist eine Frage des Standpunktes – Kopftransplantation bei einem Affen. Ruth assistiert bei der Operation und arbeitet in der Nachbetreuung. Sie hat Mitleid mit dem Tier oder leidet mit; wenn sie ihre Schicht hat, betet sie und bittet um ein Wunder: Möge Gott der Allmächtige dafür sorgen, dass Affenkopf und Affenkörper zusammenfinden. Das Tier indes, wenn es nicht schläft, dämmert postoperativ vor sich hin.

Clean & gruselig

Es ist in dieser Laborgeschichte alles clean und trotzdem auch ein wenig gruselig; Frankenstein ist nicht weit. Ruths Verhalten ist ansatzweise befremdlich, doch das sieht keiner, wenn sie nachts alleine im Labor Wache hält. Sehr wohl aber bemerkt die Glaubensgemeinde, wie Ruth eines Tages während einer Messe zusammenbricht und sich übergibt. „Lass es raus, Ruth!“, sagt der Prediger, sich vorbildlich um sein Schäfchen kümmernd. „Lass es raus, das Böse, das Schmutzige, Ruth!“, sagt er auch später immer wieder, ohne auch nur eine Sekunde darüber nachzudenken, was in einer solchen Situation das Selbstverständlichste wäre. Etwa, dass Ruth vielleicht krank ist. Oder dass sie, die den Haushalt führt, ihre Töchter erzieht, täglich joggt und voll arbeitet, etwas zu viel um die Ohren hat und erschöpft ist.

Ruth lässt den Prediger reden. Im Namen des Glaubens und dem Leben zuliebe, das sie führt: ein unaufgeregtes, gutbehütetes mittelständisches Leben, in dem viel gesagt, aber wenig miteinander gesprochen wird, kaum etwas hinterfragt und nichts ausdiskutiert wird. Auch nicht zwischen Ruth und Hanspeter, mit dem sie ab und zu keusch das Bett teilt. Sonst ist nicht viel los in ihrer Beziehung, und bei Problemen wird grundsätzlich der Prediger beigezogen.

Es geistert aber noch eine andere Geschichte durch den Film und Ruths Kopf. Diejenige ihres ehemaligen Verlobten Andi, der vor fast 20 Jahren des Mordes an seiner Tante für schuldig befunden wurde. Habgier sei das Motiv gewesen, hieß es damals im Indizienprozess. Ruth hat zu Andi gestanden, vor den Medien seine Unschuld beteuert und ihm so lange ins Gefängnis geschrieben, bis Andi den Kontakt abbrach. Doch nun soll Andi vorzeitig entlassen werden.

Ruth steigt tief in den Keller, um die Kiste mit Erinnerungsstücken an damals hervorzukramen. Fotos, Briefe, Zeitungsausschnitt, eine Videoaufzeichnung von einer Fernsehsendung. Sie sei am Entrümpeln, erklärt sie Hanspeter und zieht los, um mit Hilfe eines Detektivs herauszufinden, was sie sich bisher nie zu fragen getraute: Ob Andi die Tat begangen hat oder tatsächlich unschuldig ist.

Liebesflecken auf dem Sofa

Die Geschichten vom Affen und von Andi spitzen sich in dem ausschließlich aus Ruths Perspektive erzählten Film unablässig zu und verwirbeln sich. Andi sei tot, melden die Medien. Doch eine hinter dem Wald aufsteigende Leuchtrakete ist für Ruth ein Signal, das sie nicht missachten kann. Und die Liebesakt-Flecken auf dem Sofa sind so auffällig, dass sie stundenlang daran herumputzt; Hanspeter entdeckt sie dennoch.

Überhaupt ist in diesem nüchternen Film plötzlich viel Sex und sündige Erotik, auch bei den Töchtern. Hanspeter holt den Prediger zur Hilfe, schließlich versucht man, Ruth in der Hölle eines Swingerclubs den oder das Böse auszutreiben.

Glaube, Wahn und Wirklichkeit

Jaquemet, dem Stil des magischen Realismus verpflichtet, erzählt beeindruckend nüchtern. Die Hauptdarstellerin Judith Hofmann, die bislang eher am Theater anzutreffen und nur gelegentlich in Fernsehfilmen oder in einer Nebenrolle in Marcel Gislers „Rosie“ (2013) zu sehen war, spielt sich als Ruth in den Zenit ihrer Karriere. Geheimnisvoll, inbrünstig, unerschrocken und mutig und mit einem glühenden inneren Furor. Jede Faser ihres Körpers ist diese Ruth, bei der selbst in Moment tiefster Demütigung ein ungebrochener Wille durchschimmert. Dafür wurde sie schon als „Schweizer Antwort auf Frances McDormand“ bezeichnet und in der Schweiz 2019 mit dem Filmpreis als „Beste Darstellerin“ geehrt.

Man kann bei diesem Film, der höchst sublim mit den Realitätsebenen bricht und alles offenhält, Ruths Schicksal durchaus mit dem des Affen vergleichen – oder auch nicht. Man kann sich für die Hautfigur die Erlösung herbeiwünschen oder auch nicht, und man darf in den Bildern zu sehen glauben, was man möchte. Denn unterm Strich ist „Der Unschuldige“, der um Fragen von Glauben, Wahn und Wirklichkeit kreist, ein – auch wenn man diese Bezeichnung nicht sonderlich mag – ziemlich großartiges „Mindfuck Movie“.

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