Drama | USA 2020 | (12 Episoden) Minuten

Regie: Sam Miller

Eine aufstrebende Frau aus London, die einer Karriere als Autorin entgegensieht, wird auf einer Party betäubt und vergewaltigt. Am nächsten Tag kann sie sich an nichts mehr erinnern und versucht mühsam, das Geschehen zu rekonstruieren. Die auf autobiografischen Erlebnissen fußende Miniserie entfaltet ein vielschichtiges Panorama sexueller Übergriffe, das herkömmliche Denk- und Verhaltensmuster in Frage stellt. Die mitreißende Inszenierung changiert zwischen Detektivgeschichte, Romanze, Familiendrama und Gesellschaftssatire und liefert ein bemerkenswerter Beitrag zur Debatte um Sexismus und Missbrauch. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
I MAY DESTROY YOU
Produktionsland
USA
Produktionsjahr
2020
Produktionsfirma
BBC/HBO/Falkna/Various Artists
Regie
Sam Miller · Michaela Coel
Buch
Michaela Coel · Sherie Myers · Stephanie Yamson · Ronke Adekoluejo
Kamera
Adam Gillham
Musik
Raffertie
Schnitt
Christian Sandino-Taylor · Guy Bensley · John Dwelly · Mike Phillips · Lindsey Woodward
Darsteller
Michaela Coel (Arabella) · Weruche Opia (Terry) · Paapa Essiedu (Kwame) · Stephen Wight (Ben) · Marouane Zotti (Biagio)
Länge
(12 Episoden) Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Drama | Serie

Eine aufstrebende Autorin aus London wird auf einer Party mit K.-o.-Tropfen betäubt und vergewaltigt und versucht danach, mit dem Erlebten fertigzuwerden. Eine überaus vielschichtige Miniserie über Missbrauch und sexuelle Übergriffe.

Diskussion

Der Vorschuss für das zweite Buch der hippen und gehypten Londoner Newcomerin Arabella, deren Erstlingswerk „Chroniken eines deprimierten Millennials“ auf Twitter entstand, ist längst gezahlt. Der Verlag wird allmählich ungeduldig und will endlich etwas lesen. Doch am Abend vor dem Termin mit der Agentur, die Arabella vertritt, ist das Textdokument auf ihrem Monitor noch immer leer. Verzweifelt fängt sie an, nach Tipps, „wie man schnell schreibt“, zu googeln, während sie die Anrufe ihrer Freunde wegdrückt, die mit ihr durch die Clubs ziehen wollen. Schließlich stellt sie den Countdown ihres Smartphones auf eine Stunde und macht sich auf den Weg in die Londoner Nacht. Ein wenig Ablenkung. Ein bisschen Inspiration. Nur 60 Minuten lang.

Natürlich bleibt es nicht dabei. Die ungeduldige Handkamera stürzt sich mit Arabella hinein in den urbanen Partyrausch voll knallender Bässe und flirrender Farben. Es wird gekokst, gekifft, getanzt, gelacht, bis die Nacht in der Ego Death Bar mit einem Filmriss endet.

Am anderen Morgen scheint der Plan dann zunächst dennoch aufgegangen zu sein. Arabella hämmert wie ein auf Hochgeschwindigkeit programmierter Schreibautomat in die Tasten. Beim Treffen mit der Agentur stellt sich allerdings heraus, dass die vielen Worte zusammengenommen nicht wirklich Sinn ergeben. Und dann gibt es da noch die kleine Wunde auf der Stirn, die nicht zu bluten aufhören will. Plötzlich ist ein Bild in Arabellas Kopf: von einem verschwitzten, keuchenden, vor- und zurückwippenden Mann in einer Toilette, hinter ihr, über ihr. Als Arabella klar wird, was das bedeutet, geht sie mit Terry, ihrer besten Freundin seit Kindertagen, zur Polizei und erstattet Anzeige.

Aufarbeitung eines sexuellen Übergriffs

Die Serie „I May Destroy You“ beginnt damit, dass die Protagonistin in einem Nachtclub von einem Fremden vergewaltigt wird, nachdem dieser ihr zuvor K.-o.-Tropfen in ihren Drink gemischt hat. Den Rest der Serie über versucht Arabella herauszufinden, was in der Nacht, an die sie sich nur bruchstückhaft erinnern kann, genau passiert ist, damit klarzukommen. Sie will den Vergewaltiger aufspüren, irgendwie ihr Leben wieder auf die Reihe kriegen und ihr Buch zu Ende schreiben.

Gespielt wird Arabella von Michaela Coel, der Drehbuchautorin und Schöpferin der Serie, die gemeinsam mit Sam Miller in mehreren Folgen auch Regie führt. Es ist ihre Geschichte, und das teilweise auch in einem autobiografischen Sinn. Die Autorin der britischen Fernsehserie „Chewing Gum“ machte im Sommer 2018 auf einem Festival in Edinburgh öffentlich, dass sie während der Arbeit an „Chewing Gum“ in einer Bar betäubt und vergewaltigt worden war. „I May Destroy You“ handelt jedoch von mehr als dieser zutiefst persönlichen Erfahrung. Und dadurch streckenweise auch von weniger.

„I May Destroy You“ hat sich in kürzester Zeit zu einem Kritikerliebling entwickelt. In den ersten Folgen scheint es die 12-teilige Serie auch genau darauf anzulegen. Arabella ist eine charismatische Heldin, eine junge schwarze Künstlerin, schräg, exzessiv, exzentrisch, mit pinkfarbener Perücke, coolen Klamotten, wild, verplant, mit einem wunderbaren süffisant-selbstironischen Humor. Sie ist taff, selbstbewusst und zerbrechlich, unerbittlich und sanftmütig zugleich. Das alles verkörpert Coel so widersprüchlich stimmig, dass es leichtfällt, ihr das abzunehmen.

Ein Panoptikum des sexualisierten Missbrauchs

Solange sich die Serie auf Arabellas Geschichte und ihre Persönlichkeit konzentriert, wirkt das glaubwürdig und echt, faszinierend und schmerzhaft lebendig. Ein starkes Stück Erzählkino. Dabei aber belässt es die Inszenierung nicht. Sie fächert die ersten Folgen zu einem Panoptikum sexualisierter Gewalt und sexuellen Missbrauchs auf. Arabellas Freundin Terry bandelt auf der Suche nach einem Dreier in einer italienischen Disko nacheinander mit zwei Männern an. Sie genießt den Sex mit den beiden, doch als sich hinterher herausstellt, dass die zwei sich kannten und das Ganze ein abgekartetes Spiel war, fühlt sie sich benutzt und betrogen. Kwame, ein enger Freund von Arabella und Terry, wird nach zunächst einvernehmlichem Sex bei einem Grindr-Date vergewaltigt. Als er das der Polizei meldet, reagiert der zuständige Beamte höflich hilflos; von schwulen Sexpraktiken möchte er lieber nichts hören.

Und als Arabella eine Liaison mit Zain eingeht, einem Schriftsteller, der ihr helfen soll, die Schreibblockade zu überwinden, entfernt dieser beim Sex mit ihr heimlich das Kondom. Arabella ist darüber zwar empört und wütend. Es scheint sie zunächst aber nicht weiter zu beschäftigen, bis sie Aussagen von Betroffenen hört, die Opfer von Männern geworden sind, die sich im Internet darüber austauschten, wie sie am besten das Kondom loswerden, ohne dass die Frau etwas davon merkt, und wie sie sich hinterher geschickt dafür rechtfertigen. Als ihr klar wird, dass Zain fast wörtlich dieselbe Ausrede verwendet hat wie die Männer in diesen Foren und sie auf der Polizeiwache erfährt, dass Stealthing (das heimliche Abziehen eines Kondoms beim Sex) in Großbritannien eine Straftat ist, stellt sie Zain auf einer gemeinsamen Lesung öffentlich als Vergewaltiger bloß.

Eine Art Aufklärungsbroschüre

In der Art einer verfilmten Aufklärungsbroschüre handelt das Script von „I May Destroy You“ in den ersten Folgen also verschiedene Varianten sexualisierter Übergriffe ab. Die moralischen Grenzen zwischen richtig und falsch sind dabei sehr klar und übersichtlich gezogen, und sie verlaufen stets zwischen den handelnden Charakteren: Arabella und ihrem Freundeskreis, den Opfern, auf der einen Seite, und den Tätern – alle scheinbar unterschiedslos dieselben Mistkerle oder „Raubtiere“ – auf der anderen. Da Arabella, Terry und Kwame zudem schwarz sind und zumindest einige der Täter weiß, erhält die Gewalt noch zusätzlich eine rassistische Note.

Überhaupt ist der alltägliche und institutionalisierte Rassismus neben Sexismus und Missbrauch das zweite große gesellschaftspolitische Thema in „I May Destroy You“. Hier jedoch fließen von Anfang an deutlich mehr Zwischentöne und Widersprüchlichkeiten ein und verläuft die Verteilung der Sympathien keineswegs entlang der Hautfarbe. Arabellas weißer Mitbewohner Ben beispielsweise ist eine schon wieder geradezu klischeehaft gute Seele. Überhaupt erscheinen die Konflikte und Figuren in den ersten Episoden bisweilen allzu plakativ im moralischen Hell-Dunkel ausgeleuchtet.

Schwarz und Weiß

Etwa mit der sechsten Episode aber ändert sich diese Erzählweise. Passend dazu, dass Arabella keine Drogen mehr nimmt und innerlich zur Ruhe zu kommen versucht, nehmen die hektischen Handkameraschwenks ab. Neu aber ist vor allem, dass sich im weiteren Verlauf die Perspektive weitet. Rückblenden kommen hinzu und narrative Seitenstränge, die auch die Hauptfiguren mitunter in ein Zwielicht rücken und manchem vermeintlichem Monster ein menschliches Antlitz verpassen. Michaela Coel gelingt das, ohne dass sie sexualisierte Gewalt auch nur ansatzweise relativierte. Sie zeigt vielmehr, dass auch nette Menschen Missbrauch begehen können, oftmals sogar, ohne sich dessen überhaupt bewusst zu sein. Damit führt sie ihre Serie aus dem Feld der Politik hinüber in das Reich der Kunst, in dem selten etwas eindeutig und unumstößlich ist. Eine Vergewaltigung bleibt auch hier eine Vergewaltigung. Missbrauch bleibt Missbrauch. Nur sind die Missbrauchenden nicht länger nur die Anderen, sondern auch wir selbst beziehungsweise unsere Identifikationsfiguren Kwame, Terry und Arabella.

Mit diesem mutigen Dreh, der vielleicht sogar die moralische Rigidität der ersten Folgen erfordert, gelingt es Coel, ihre Erzählung über die Grenzen eines eindringlichen Filmpamphlets hinauszuheben und in ein Kunstwerk zu verwandeln, das auf feinfühlig subversive Weise die Oberfläche zeitgeistiger Debatten durchdringt.

Eigene Positionen hinterfragen

So zwingt sie ihr Publikum dazu, den Finger, mit dem es so leicht ist, auf andere zu zeigen, auch auf sich selbst zu richten. Hier fängt Veränderung an. Und dort, nämlich bei sich selbst, findet auch Arabella schließlich einen Weg, sich von ihrem Trauma zu befreien. Das klingt nach hartem Stoff. Das ist harter Stoff. Aber es ist, in der pulsierenden, tragikomischen Inszenierung von Miller und Coel, fast immer auch unterhaltsam, kurzweilig, grotesk, mal eine Detektivgeschichte, dann wieder eine Romanze, ein Familiendrama, ein im Sound der Großstadt vibrierender Streifzug durch Londons Künstlerszene, eine Gesellschaftssatire und, dank des exzellenten, unverbrauchten Ensembles, ein großartiges Schauspielkino, wenn auch im Fernsehformat.

En passant – und das beweist, dass Coel in „I May Destroy You“ eben nicht einfach dem Zeitgeist hinterherschreibt – thematisiert die Filmemacherin in der siebten Episode „Happy Animals“ die heuchlerische Selbstbezogenheit einer weißen Klimaretter-Bourgeoisie. Eine Folge, über die in den begeisterten Kritiken zur Serie bislang übrigens eher weniger zu lesen war.

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