Drama | Großbritannien 2020 | 93 Minuten

Regie: Remi Weekes

Ein nach Großbritannien emigriertes Ehepaar aus dem Südsudan, das von schweren Kriegs- und Fluchterfahrungen geprägt ist, kämpft ohnmächtig mit den Behörden und einem verfluchten Haus sowie einer Schuld, in deren Zentrum der Tod der gemeinsamen Tochter zu stehen scheint. In einer ungewöhnlichen Variante des Geisterhaus-Genres gelingen dem atmosphärisch dichten, vielschichtigen Horrorfilm veritable Schockmomente, die sich zu einem Statement über die Schrecken der Flucht verdichten. Zwischen Assimilation und Abgrenzung gerät überdies der kulturelle Hintergrund der Protagonisten auf den Prüfstand, ohne dass der Film den britischen Alltagsrassismus aus den Augen verlieren würde. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
HIS HOUSE
Produktionsland
Großbritannien
Produktionsjahr
2020
Produktionsfirma
BBC Films/New Regency Prod./Starchild Pict./Vertigo Ent.
Regie
Remi Weekes
Buch
Remi Weekes · Felicity Evans · Toby Venables
Kamera
Jo Willems
Musik
Roque Baños
Schnitt
Julia Bloch
Darsteller
Sope Dirisu (Bol Majur) · Wunmi Mosaku (Rial Majur) · Matt Smith (Mark Essworth) · Malaika Wakoli-Abigaba (Nyagak) · Javier Botet (Hexe)
Länge
93 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Drama | Horror
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Ein aus dem Südsudan nach Großbritannien geflohenes Ehepaar wird in seiner neuen Bleibe von den Geistern einer unbewältigten Vergangenheit heimgesucht. Mischung aus Geisterhaus-Horror und Migrationsdrama.

Diskussion

Beunruhigt läuft Rial an den immer gleichen schmutzig-grauen Betonfassaden entlang. Hier, in der gesichtslosen Vorort-Tristesse, sucht die Frau aus dem Südsudan die Adresse eines Arztes. Unwirklich, wie in einem von Geisterhand gezogenen Labyrinth, führen die Sackgassen immer weiter weg von dem zugemüllten Haus, das Rial und ihr Mann Bol Majul nun ihr Zuhause nennen sollen. Eine Gruppe schwarzer Teenager veräppelt Rial, weist ihr unterschiedliche Wege und ruft am Ende noch ein „Hau ab nach Afrika“ hinterher.

Erniedrigend, verwirrend – so wie diese erste Erkundung des neuen Wohnorts in der Fremde – mögen sich auch die endlosen Behördengänge angefühlt haben, die das Ehepaar Majul im letzten Jahr über sich ergehen lassen musste. Jetzt steht ihnen ein verfallenes Haus in einer Brennpunktsiedlung irgendwo in Großbritannien zur Verfügung. „Ist größer als meins“, murmelt ein Beamter in der Einwanderungsbehörde missmutig vor sich hin. „Normalerweise bringen wir auf der Hälfte der Fläche doppelt so viele unter“, unterstreicht Betreuer Essworth das vermeintliche Glück. Essworth ist für Bol und Rial der erste Anlaufpunkt für Beschwerden. Er ist aber auch das Scharnier einer Drehtür zwischen Abschiebung, Duldung und der Hoffnung auf Asyl, die in diesem Fall größer zu sein scheint als üblich.

Die Traumata der Vergangenheit

Rial und Bol haben auf der Überfahrt ihre kleine Tochter Nyagak in den Fluten des Mittelmeers verloren – geblieben ist Rial nur eine blonde Puppe, aus deren Perlensaum sie sich eine Halskette bastelt. Schreckliche Erlebnisse prägten die Vergangenheit aus Krieg und Flucht. Jetzt gibt sich die Zukunft nicht weniger feindselig: Quasi-entrückt stiert die Katze-streichelnde Nachbarin aus dem Fenster. Die Wände scheinen nicht nur Ohren, sondern auch weit aufgerissene Münder zu haben: Vor allem im Dunkeln materialisieren sich in den Zimmern und Trennwänden, die Bol nach und nach mit einem Vorschlaghammer durchlöchert, von Schuld zeugende Gestalten, die Bol nicht wahrhaben will. Selbst als ihm Rial die Geschichte eines alten Hexenmeisters erzählt, der bestohlen wurde. So lange ruhte der „Apeth“ nicht, bis er den Dieb, der so sehr nach einem eigenen Haus gierte, dass er andere bestahl, verschlungen hatte. Der Hexenmeister habe Rial versprochen, ihr Nyagak zurückzugeben. Aber der Preis dafür ist hoch.

Regisseur Remi Weekes findet in diesem nicht lange mit der Bedrohung hinter dem Berg haltenden Independent-Horrorfilm ein starkes Sinnbild für die Schrecken der Vergangenheit, die so viele Flüchtende im Gepäck haben und nicht so einfach ablegen können. Zunächst nicht näher definiert, aber immer drängender schiebt sich die Schuld durch die Wände dieses Hauses in den Vordergrund und ins Bewusstsein eines zunehmend von Visionen geplagten Mannes. Seine vor den Behörden, aber auch zu sich selbst als Beruhigung wiederholte Selbsteinschätzung „Wir sind gute Menschen“ wird wie die Wände dieses Hauses immer brüchiger. Wozu kann eine lebensgefährliche Ausnahmesituation einen Menschen treiben? Und wie gehen die Überlebenden mit ihrer Schuld gegenüber den Zurückbleibenden im ihnen verbleibenden Leben um?

Haunted-House-Horror & Migrationsdrama

Voodoo, Aberglaube und Dämonen des afrikanischen Kontinents manifestieren sich im neuen Zuhause, während ausgerechnet Szenen der unhinterfragten Assimilation, zum Beispiel wenn Bol seiner Frau das Essen mit den Händen versagen will, die schlimmsten Visionen einläuten. Die Negierung des eigenen kulturellen Backgrounds hat nicht etwa die Rettung, sondern vielmehr Zerwürfnis und Untergang zur Folge. Das kulminiert in der Szene, in der Bol seiner Frau besagte Perlenkette als letzte Erinnerung an Nyagak vom Hals reißt und verbrennt, um die Spuren der Vergangenheit und somit jede dämonische „Markierung“ endgültig zu zerstören. Mit der zunehmenden Bebilderung beginnen die Geister an Unheimlichkeit zu verlieren, machen dafür aber den Schrecknissen der erinnerten Realität Platz, die sich mit den Visionen zu mischen beginnt.

Weekes’ Debütfilm, der auch aufs diesjährige Sundance-Filmfestival eingeladen wurde, inszeniert damit nicht nur eine atmosphärisch starke Variante des Haunted-House-Genres, sondern auch ein vielschichtiges, am Ende sehr berührendes Statement zum Verlorenheitsgefühl in der Fremde, zur Migration und den schrecklichen Umständen, die dieser zugrunde liegen. Eindrücklich gespielt brechen sich in den Figuren von Wunmi Mosaku and Sope Dirisu die inneren Dämonen vieler auf der Flucht befindender Menschen ihren Bann.

Während die obskuren Schrecken des Horror-Genres mit der bitteren Realität des Flüchtlingsschicksals vermengt werden und zu einer durchaus überraschenden Auflösung finden, geht es Weekes’ Film doch hauptsächlich um Trauma-Bewältigung, Es geht um den schädlichen Eindruck, den diese Bewältigung nach außen machen kann, vor allem wenn der allgegenwärtige Rassismus diesen Eindruck befeuert. Und es geht um die Notwendigkeit, sein inneres Haus wieder für sich zurückzugewinnen, statt es nach und nach der Zerstörung preiszugeben – sei es durch Verdrängung oder aktives Zutun. Und so wandelt sich der Grusel des Geister-Genres zur berührenden Studie über das Loslassen und das Verzeihen – vornehmlich gegenüber sich selbst.

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