Animation | Dänemark/Frankreich/Schweden/Norwegen 2020 | 85 Minuten

Regie: Jonas Poher Rasmussen

Ein afghanisch-stämmiger Akademiker erzählt seinem Schulfreund seine Geschichte, wie er als Jugendlicher in den 1980er-Jahren nach Dänemark flüchtete, präsentiert in Form eines dokumentarischen Animationsfilms. Die Flucht begann, als er als Kind mit seiner Familie seine Heimatstadt Kabul verließ und jahrelang in Russland und Estland gestrandet war. Seine leidvollen Erfahrungen als Flüchtling, bei denen er seine Familie ebenso verheimlichte wie seine Homosexualität, behielt er jahrzehntelang für sich. Die animierte Form des einfühlsamen, unpathetischen Films bewahrt die Anonymität des Mannes und fungiert als Katharsis sowie als informativer Bericht für westliche Zuschauer. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
FLEE
Produktionsland
Dänemark/Frankreich/Schweden/Norwegen
Produktionsjahr
2020
Produktionsfirma
Final Cut For Real/Mer Film/Most Film/RYOT Films/Sun Creature Studio/Vivement Lundi
Regie
Jonas Poher Rasmussen
Buch
Jonas Poher Rasmussen · Amin Nawabi
Musik
Uno Helmersson
Schnitt
Janus Billeskov Jansen
Länge
85 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Animation | Dokumentarfilm
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Ein dokumentarischer Animationsfilm über einen in Dänemark lebenden Akademiker, der als Kind und Jugendlicher eine langjährige und gefährliche Flucht von Afghanistan nach Westeuropa überstehen musste.

Diskussion

Wie definiert man ein Zuhause? Für Amin Nawabi, den Protagonisten von „Flee“, ist das Zuhause ein Ort, an dem er bleiben kann. Denn der Enddreißiger hat lange gebraucht, bevor er sich physisch, aber vor allem geistig an einem Ort aufgehoben fühlen konnte. Heute ist Amin ein erfolgreicher Akademiker in Dänemark, der unter anderem in Princeton forscht und in einer langjährigen Beziehung mit seinem Partner Kasper lebt. Doch im Gespräch mit seinem Schulfreund Jonas Poher Rasmussen, dem Regisseur dieses Films, offenbart er zum ersten Mal seine leidvolle Geschichte als Flüchtling.

Als Kind musste er Ende der 1980er-Jahre mit Mutter, Bruder und Schwestern vor den Mudschaheddin aus Afghanistan fliehen. Die Familie strandete in Moskau, wandte sich in ihrer Not an Schleuser. So gelangten die Schwestern nach Schweden, mussten die illegale Überfahrt in einem Container jedoch fast mit dem Leben bezahlen. Amin, sein Bruder Saif und die Mutter Tahera versteckten sich jahrelang in einer Wohnung in Russland. Angst, Langeweile sowie ein gescheiterter Fluchtversuch über die Ostsee kennzeichneten das Leben der Familie. Als Teenager erreichte Amin schließlich das rettende Dänemark – allein, als sogenannte Flüchtlingswaise.

Doch über diese Erfahrungen hat Amin 20 Jahre lang nicht gesprochen. Damit Amin seine sehr persönliche Geschichte erzählen kann, hat Rasmussen die animierte Form für seinen Film gewählt. Die Bilder sind realistisch genug, um Orte sowie die Figuren und ihre Gefühle zu transportieren. Gleichzeitig kann Amin Nawabi, dessen Stimme im Original zu hören ist, der in Wirklichkeit aber anders heißt, seine Anonymität wahren und damit auch seine Familie schützen.

Animationen, unterbrochen von Real-Archivbildern

Alles beginnt in Kabul, wo Amin mit seinen Geschwistern behütet aufwächst. Er ist ein extrovertiertes Kind, hört gern die Band „a-ha“, spielt auf der Straße und lauscht den Geschichten seiner Schwester über ihren Vater. An ihn kann er sich kaum erinnern, da dieser zu Beginn der sowjetischen Invasion verhaftet wurde und schließlich ganz verschwand. Unterbrochen werden die animierten Sequenzen in Afghanistan und an anderen Stationen von Amins Flucht regelmäßig von Real-Archivbildern. Sie vermitteln vor allem am Anfang, als Amin sein Leben noch genießt, eine Prise echter Historie und helfen dem Publikum bei der Orientierung. Doch sobald sich die Familie auf die Flucht begibt, werden die animierten Farbbilder düsterer und bilden die jahrelange Irrfahrt der Nawabis nachvollziehbar ab. Animierte Schwarz-weiß-Sequenzen benutzt Rasmussen dann, wenn der Protagonist von Angstvorstellungen heimgesucht wird, etwa der Furcht vor dem Ertrinken.

Eindringlich demonstriert der Film, dessen Figuren und Kosmos stilisiert, aber sehr wiedererkennbar sind, das Ausgeliefertsein seiner Helden. Von den häufig brutalen Schleusern werden sie nicht als Menschen, sondern als lebende Waren angesehen, an denen man sich bereichern kann. Für Behörden dagegen sind sie lästige Wesen, deren Grundbedürfnisse man absichtlich ignoriert. Nach einem gescheiterten Fluchtversuch über die Ostsee strandet Amin samt Bruder und Mutter in einer Flüchtlingsunterkunft in Estland. Dort werden sie in beengten und sanitär katastrophalen Verhältnissen auf unbestimmte Zeit geradezu geparkt. Eine Aussicht auf Asyl besteht nicht, sodass die Familie sich wieder nach Russland abschieben lässt, wo sie ebenso wenig erwünscht ist. Anhand eines konkreten und authentischen Schicksals zeigt „Flee“ auf, dass einzig die illegale Flucht zum Erfolg, das heißt zum Erreichen von Westeuropa, führt. Doch diesen Weg kann nur gehen, wer es sich leisten kann. Außerdem ist die illegal organisierte Flucht oft lebensgefährlich.

Leben zwischen Hoffen und Warten

Den erzählerischen Rahmen des Films bilden die Szenen, in denen sich Amin vor Jonas Rasmussen quasi auf die Couch begibt, auch wenn diese im Film durch einen orientalischen Teppich symbolisiert wird. Das jahrelange Leben zwischen Hoffen und Warten hat bei Amin – und damit steht er für Abertausende anderer Flüchtlinge – seelische Narben hinterlassen. Als Teenager konnte er niemandem anvertrauen, dass er durchaus noch Familie hatte und dass sie in Schweden lebte, weil er nur als Flüchtlingswaise Anspruch auf Aufenthalt in Dänemark hatte. Als schwuler Jugendlicher wiederum hatte er Angst, sich bei seinen Besuchen der Familie in Schweden zu outen – unbegründet, wie sich später herausstellen wird.

Trotz aller bedrückenden Erlebnisse des Kindes und Teenagers Amin schafft es dieser Animationsfilm für Erwachsene in den Rückblenden immer wieder, auch Normalität zu vermitteln und humorvolle Episoden einzuflechten. So schwingt in den Episoden in Kabul zwar immer eine Bedrohung mit, denn Bruder Saif muss ständig auf der Hut sein, um nicht zur Armee eingezogen zu werden. Doch eine Kindheit mit Freunden und Freuden wie dem Volleyballspiel oder dem Drachensteigen schildert „Flee“ nebenbei ganz selbstverständlich.

Auch die Empfindungen des jungen Homosexuellen Amin sind nicht besonders schambesetzt oder schmerzerfüllt. Zwar fremdelt er zunächst mit seiner Liebe zu Männern, doch bald akzeptiert er es. Er verliebt sich in einen anderen Flüchtlingsjungen oder schwärmt für den akrobatischen belgischen Muskelmann Jean-Claude Van Damme, was der Film amüsant inszeniert. In der Jetzt-Ebene stehen wiederum Beziehungsprobleme zwischen Amin und seinem Freund Kasper, Amins Berufsleben und die alte Freundschaft zu Jonas im Vordergrund.

Ein Film um Freundschaft und Hoffnung

„Flee“ ist ein Film, der zu Zeiten eines Krieges in Europa aktueller denn je erscheint. Doch es ist auch ein Film, in dem es weniger um kulturelle Unterschiede oder Klischees über Afghanistan geht als um Freundschaft und Hoffnung. Mit viel Sympathie, aber ohne Pathos erzählt er von einem Menschen, der viel hat durchmachen müssen, aber seinen Weg gefunden hat. In dem Regisseur Jonas Poher Rasmussen hat Amin Nawabi einen Freund, der ihn ermuntert, reinen Tisch zu machen und auf diese Weise seine seelischen Wunden zu lindern. So kann der authentische Protagonist sein Schicksal einem breiteren Publikum näherbringen, während Rasmussen dafür die adäquate künstlerische Form gefunden hat.

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