Dokumentarfilm | Deutschland 2020 | 102 Minuten

Regie: Hannah Schweier

Ihr Leben lang hat eine Wirtin in der Oberpfalz Schnitzel zubereitet, doch jetzt droht ihr verschuldetes Anwesen zwangsversteigert zu werden. Bis plötzlich ihre Enkelin, eine Molekularbiologin, den Hof übernehmen will, dokumentiert von deren Schwester, die den Neuanfang mit viel Skepsis aus dem Off kommentiert. Aus dem bunten Geflirr an Erinnerungsfetzen, Momentaufnahmen, Home-Videos und stillen Landschaftsbildern erwächst eine dramaturgisch geschickt arrangierte Familienchronik über harte Arbeit, innere Sehnsüchte und zerplatzte Träume aus dezidiert weiblicher Perspektive. Zugleich ein facettenreicher Diskursfilm über disparate Generationsentwürfe und neue Geschlechterrollen. - Ab 14.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2020
Produktionsfirma
Zum Goldenen Lamm/ZDF
Regie
Hannah Schweier
Buch
Hannah Schweier
Kamera
Stefanie Reinhard
Musik
Ella Zwietnig
Schnitt
Romy Steyer
Länge
102 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Ab 14.
Genre
Dokumentarfilm
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Vielschichtige Familienchronik aus der Oberpfalz über Leben und Arbeit, alte Ideale und neue weibliche Sehnsüchte.

Diskussion

Steinlohe in der Oberpfalz. Bis zur Grenze nach Tschechien sind es nur 600 Meter. In der abgeschiedenen Gemeinde im Landkreis Cham steht der Gast- und Bauernhof „Zum Zollhaus“. 38 Kühe, 14 Hektar landwirtschaftlicher Nutzfläche und unfreiwillig viel Ruhe. Dies ist das Reich der 83-jährigen Berta Zenefels. Seit einem halben Jahrhundert steht die resolute Oberpfälzerin an den Kochplatten ihrer kleinen Küche, um vor allem Schnitzel zu panieren, die den Dokumentarfilm ihrer Enkelin Hannah Schweier leitmotivisch durchziehen.

„80.000 Schnitzel“, so der Filmtitel, landeten im Laufe der Jahrzehnte in Bertas Gusseisenpfanne. Auch ihre Jägerschnitzel und kleinen Brotzeiten sind in der Region weithin bekannt, obwohl ihr Gasthof aufgrund immenser Schulden längst geschlossen wurde. Nur vereinzelt machen Wanderer hier noch Rast. Selbst die treuen Stammgäste sind inzwischen entweder verstorben oder bleiben aus. Ohne eine touristisch-gastronomische Langzeitstrategie und eine Nachfolgeregelung steht die alte Frau vor den Trümmern ihres Lebens. Nach vielen Jahren des Schuftens und Buckelns droht die Zwangsversteigerung und damit das endgültige Aus fürs „Zollhaus“.

Schroff, aber herzlich

Plötzlich aber zeigt ihre Enkelin Monika, die Schwester der Filmemacherin Hannah Schweier, Interesse und wagt zusammen mit ihrer Großmutter einen Neuanfang.

„Unser Opa ist schon lange tot. Herzinfarkt. Mit 65“, heißt es lapidar in dem von der Regisseurin selbst gesprochenen Off-Kommentar. In dieser manchmal schroffen, aber jederzeit herzlichen Mixtur aus echter Empathie und vollkommenem Unverständnis erzählt die 1980 geborene Absolventin der Filmakademie Baden-Württemberg ein dokumentarisches Generationsporträt, das sich auch formalästhetisch keines definierten Looks bedient, sondern sich auch des familiären Home-Video-Materials bedient und von persönlichen Reflexionen der Regisseurin durchwoben ist, die selbst niemals einen derartigen Gast- und Bauernhof übernehmen würde.

Für Berta hingegen gleicht diese überaus anstrengende Existenz zunehmend einem Teufelskreis. Schweier erzählt anhand ihrer Protagonistin eine ebenso ergreifende wie beglückende Familienchronik, die in erster Linie vom Zusammenspiel wie vom Gegeneinander zweier zunächst gänzlich disparat erscheinender Frauengenerationen zehrt. Gleichzeitig reflektiert der Film über neue und alte Geschlechterrollen sowie den gegenwärtigen Stadt-Land-Diskurs.

Monika, die Schwester von Hannah Schweier, hatte anfangs den Part der Rebellin übernommen, doch jetzt wird sie zum Hoffnungsanker für Berta, die inzwischen im Rollstuhl sitzt und gepflegt werden muss. Trotz Abitur, Auslandsaufenthalten und eines Studienabschlusses als Jahrgangsbeste in Molekularbiologie entschließt sich Monika mit Anfang 30 für einen kompletten Neustart als künftige Wirtin und Bäuerin des „Zollhaus“.

Auf den Trümmern früherer Träume

„Wie viele Schulden übernimmst du?“, möchte ihre Schwester hinter der Kamera wissen, mit der sie viele Jahre zusammen die Welt bereist hat. „Einiges.“ Pause. „Einiges“, wiederholt Monika und blockt gleich wieder ab. Ihr Sinneswandel passt so gar nicht mehr zur „Beste Freundinnen“-Konstellation früherer Tage. Damals wollten die Schwestern alles gemeinsam erleben und möglichst „groß, frei und legendär“ werden: Hannah als künftige Gewinnerin der „Goldenen Palme“ in Cannes und Monika als potentielle Nobelpreisträgerin im Kampf gegen Aids, wie es die Regisseurin beim Blick auf private Videoschnipsel melancholisch kommentiert: „Ich stehe auf den Trümmern unserer Träume. Verloren. Allein.“

Ihr Vater Klaus, ein Zahnarzt aus Chieming, hatte ihnen genau diesen Freiheitsdrang mit möglichst viel Urlaub, Reisen und Selbstverwirklichung seit ihrer Kindheit vorgelebt. In seinen Augen sollte es im Leben eben darum gehen, nicht nur um Arbeit oder Geld.

In „80.000 Schnitzel“ erleben Oma Berta und ihre beiden Enkelinnen noch weitere Schicksalsschläge. So bringt der plötzliche Tod Sieglindes, Bertas Tochter und zugleich Hannas und Monikas Mutter, die Filmarbeiten kurzzeitig an den Rand des Abbruchs.

Alte & neue Traditionen

Dramaturgisch geschickt nach den vier Jahreszeiten arrangiert und durchgängig voller Verve, gehört „80.000 Schnitzel“ neben „Walchensee Forever“ von Janna Ji Wonders zu den gelungensten Familienchroniken der jüngsten Zeit.

Wenn im Abspann eine Coverversion des Klassikers „Wonderful Life“ erklingt, kommt eine mitreißende Geschichte über alte und neue Traditionen, vergangene und künftige Frauenrollen, Sinnsuchen und Ausbrüche in der ostbayerischen Provinz zu einem perfekten Ende.

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