Kollektiv - Korruption tötet

Dokumentarfilm | Rumänien/Luxemburg 2019 | 110 Minuten

Regie: Alexander Nanau

Nach einem verheerenden Feuer im Bukarester Nachtclub Colectiv im Jahr 2015 starben in den folgenden Wochen auch 37 nicht lebensbedrohlich versehrte Brandopfer in Krankenhäusern. Journalisten, die Hinweisen von Ärzten nachgingen, deckten diese Todesfälle als direkte Folge eines korrumpierten Gesundheitssystems auf sowie eines politischen Apparats, der diese Mängel mit beispiellosen Lügen kaschieren wollte. Der aufwühlende Dokumentarfilm arbeitet den Skandal präzise durch die Begleitung der Journalisten, eines kurzzeitig zum neuen Gesundheitsminister ernannten Patientenrechtsaktivisten und einer brandversehrten Performerin auf. Spannend, sachlich und zugleich anklagend analysiert der Film das korrupte System, das über Rumänien hinaus eine beunruhigende globale Entwicklung im Gesundheitswesen erkennbar macht. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
COLECTIV
Produktionsland
Rumänien/Luxemburg
Produktionsjahr
2019
Produktionsfirma
Alexander Nanau Prod./HBO Europe/Samsa Film
Regie
Alexander Nanau
Buch
Alexander Nanau · Antoaneta Opris
Kamera
Alexander Nanau
Musik
Kyan Bayani
Schnitt
Dana Bunescu · George Cragg · Alexander Nanau
Länge
110 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Dokumentarfilm
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Außergewöhnlicher Dokumentarfilm über investigative Reporter, die nach massenhaften Todesfällen von nicht lebensgefährlich verletzten Opfern eines Brandes in Bukarest die Ausmaße des korrumpierten Gesundheitswesens in Rumänien aufdecken.

Diskussion

Eine Handyaufnahme zeigt die ersten Momente der Katastrophe. Unmittelbar nach einem Konzert brechen im Bukarester Club „Colectiv“ plötzlich Flammen aus, die sich in Sekundenschnelle über den Saal verbreiten. Nebel, Schreie, Dunkelheit. 27 Menschen sterben, 180 weitere werden verletzt und in die umliegenden Krankenhäuser gebracht. In den Wochen nach dem Unglück verlieren von ihnen noch einmal 37 Frauen und Männer ihr Leben, obwohl sie sich im Grunde außer Gefahr befanden. Wie konnte das geschehen?

Der deutsch-rumänische Dokumentarist Alexander Nanau, 1979 in Bukarest geboren und seit 1990 in der Bundesrepublik lebend, will es in seinem Film „Kollektiv – Korruption tötet“ ebenso wissen wie die Verwandten und Freunde der Verstorbenen. Deren Fragen und Anklagen werden von den Journalisten der Bukarester Sportzeitung „Gazeta Sporturilor“ mit beispiellosem investigativen Furor aufgegriffen. Mit den beschwichtigenden Erklärungen der Ärzte und Politiker, die behaupten, über ein gleich gutes Gesundheitssystem zu etwa Deutschland zu verfügen, gibt sich bald niemand mehr zufrieden.

Erschreckendes tritt zutage

Und tatsächlich wird Erschreckendes zutage gefördert. Viele der Patienten starben an Krankenhauskeimen, sie wurden wissentlich in einem septischen Umfeld gehalten, Desinfektionsmittel fehlten oder waren so stark verdünnt, dass sie ihre Wirkung verloren. Die Zeitung enthüllt, dass solche verdünnten Substanzen in rund 2000 rumänischen Operationssälen eingesetzt werden. Hier tickt eine Bio-Bombe; es heißt, die Desinfektionsmittel hätten dieselbe Wirkung wie Regenwasser.

Nanau bleibt mit seiner Kamera nahe an den handelnden Figuren. Dem Journalisten Catalin Torontan, der dem Gesundheitsminister auch dann noch unerschrocken begegnet, als dieser längst eine „Medienkampagne“ am Werk sieht. Einer Fotografin und Performerin, die sich mit ihrer Kunst dem von Brandnarben übersäten eigenen Körper nähert. Und schließlich dem jungen, nach dem Rücktritt des alten Gesundheitsministers eingesetzten neuen Minister Vlad Voiculescu, der sich mutig, aber letztlich machtlos sowohl der Trägheit und Unentschlossenheit der eigenen Beamten als auch der Korruption in Krankenhäusern entgegenstellt.

Zustände einer korrupten Gesellschaft

Die dichte Erzählweise, die zügige, immer auf den Punkt gebrachte Montage, auch die erbarmungslos sachliche Kamera fügen sich zu einer so atemlosen wie atemberaubenden kriminalistischen Studie, die weit über den geschilderten Fall hinaus die Zustände einer durch und durch korrupten Gesellschaft offenbart – immerhin eines Mitgliedsstaates der Europäischen Union, in den Hunderte Millionen Euro Fördergelder fließen, von denen wohl ein großer Teil in dunklen Kanälen verschwindet. Eine solche Verallgemeinerung wird im Film zwar nicht verbalisiert; es gibt keinen Autorenkommentar, der Vorgang kommentiert sich von selbst. Aber alle aufgedeckten Tatsachen weisen auf die unheilvolle Verfilzung von Macht, Geld und Unmoral bis in höchste Regierungskreise hin.

So legen die Journalisten offen, dass der rumänische Geheimdienst schon seit den 1980er-Jahren von den unhaltbaren Zuständen im Gesundheitswesen wusste und entsprechende Berichte nach „oben“ durchgab, die aber allesamt unbeachtet blieben. Epidemiologen wurden geschmiert. Ein Geschäftsmann, der landesweit mit den verdünnten Desinfektionsmitteln handelte, starb plötzlich bei einem Autocrash – Unfall, Selbstmord oder Mord?

Mitarbeiterinnen einer Klinik legen dem neuen Minister Handyaufnahmen von Patienten vor, aus deren Wunden Würmer kriechen, was darauf hindeutet, dass sie im Krankenhaus nicht gewaschen werden: „Alles geht nur ums Geld.“ Der junge Minister, ein studierter Patientenrechtler, erfährt, dass auch die Leiter in den Ausbildungsstätten des Gesundheitsmanagements korrupt sind und Zeugnisse ausstellen, die jeder Grundlage entbehren. Mit Scheinrechnungen werden Millionen Euro veruntreut. Und so weiter.

Ohne falsche Hoffnungen

Der Film endet ohne falsche Hoffnungen. Die Journalisten der „Gazeta Sporturilor“ erhalten inoffizielle Warnungen von Geheimdienstagenten: Sie sollten mehr auf ihre Familien achten, denn sie hätten in ein Nest skrupelloser Mafiosi gestochen. Der rund um die Uhr agierende Gesundheitsminister wird durch Falschbehauptungen geifernder Politiker diskreditiert und erlebt während der Wahlen erschüttert mit, dass die rumänischen Sozialdemokraten, die die Misere wesentlich mitbefördert und gedeckt hatte, zur Siegerin ausgerufen wird.

Eine Zuversicht bleibt im Film nur dank der Performerin, die während einer der stärksten und leisesten Szenen dabei gezeigt wird, wie sie ihre Handprothese anlegt und zum ersten Mal versucht, damit umzugehen. Mut für den Alltag in einem System, das von tätiger Humanität unendlich weit entfernt ist.

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