Drama | Kanada 2018 | 102 Minuten

Regie: Geneviève Dulude-De Celles

Ein schüchternes Mädchen in der sechsten Klasse muss sich entscheiden, ob sie mit einem Jungen aus einem Reservat befreundet sein oder ob sie sich wie die Clique um eine coole Anführerin verhalten will, in der sich Mädchen schminken und mit ersten sexuellen Erfahrungen prahlen. Das bildstark und mit einfühlsamer Kamera erzählte Debüt handelt von der Sehnsucht eines Kindes an der Schwelle zur Jugendlichen, das Teil einer Gemeinschaft werden will, und von der Schwierigkeit, sich selbst treu zu bleiben. Der Jugendfilm überzeugt dabei sowohl als Coming-of-Age-Geschichte als auch als vielschichtige Erzählung über Zugehörigkeit, Regelkonformität und Individualität. - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
UNE COLONIE
Produktionsland
Kanada
Produktionsjahr
2018
Produktionsfirma
Colonelle Films
Regie
Geneviève Dulude-De Celles
Buch
Geneviève Dulude-De Celles
Kamera
Léna Mill-Reuillard · Étienne Roussy
Musik
Mathieu Charbonneau
Schnitt
Stéphane Lafleur
Darsteller
Émilie Bierre (Mylia Bonneau) · Irlande Côté (Camille) · Cassandra Gosselin-Pelletier (Jacinthe) · Jacob Whiteduck-Lavoie (Jimmy) · Robin Aubert (Henri)
Länge
102 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Drama | Jugendfilm
Externe Links
IMDb | TMDB | JustWatch

Eine zwölfjährige Schülerin muss sich entscheiden, ob sie mit einem First-Nations-Jungen befreundet sein und ihren eigenen Weg gehen will oder sich doch eher einer Clique um eine coole Anführerin anschließen will.

Diskussion

Die einen malen immer über die Linien. Die anderen halten sich streng an die Vorgaben und füllen die Vorlagen exakt aus. Mylia sagt, sie habe nie verstanden, warum man vorgefertigte Formen ausmalen soll. Jimmy, der Junge aus dem Abenake-Reservat, findet das gut. Auch er mag es nicht, wenn man sich anpasst oder gar verleugnet. Es ist ein starkes Bild, dass die Regisseurin Geneviève Dulude-De Celles findet, um in ihrem ersten langen Spielfilm über den Gegensatz von Regelkonformität und Individualität zu erzählen – und über die Notwendigkeit, einen eigenen Weg zu finden und dann auch mutig zu gehen.

Weil die zwölfjährige Mylia sehr schüchtern und zurückhaltend ist, hält sie sich anfangs an die Regeln. Unsicher beobachtet sie in ihrer neuen Schule die anderen Jungen und Mädchen, die sich so gar nicht für den Unterricht zu interessieren scheinen. Während die Lehrerin ihnen beizubringen versucht, was es bedeutet, Teil einer Gemeinschaft zu sein, langweilen sie sich. Neben Mylia sitzt Jimmy, der ihr schon im Bus auf dem langen Weg von ihrem abgelegenen Wohnort Pierreville zur Schule aufgefallen ist. Wie sie ist er ein Außenseiter. Dass er mit seiner Großmutter in einem First-Nations-Reservat lebt, lässt ihn für die anderen Kinder noch fremder wirken.

Geschmeichelt und umworben

Doch während Jimmy überhaupt keinen Kontakt zu den anderen sucht und seine Rolle als Außenseiter akzeptiert hat, will Mylia Teil der Gruppe sein. Als sie von der coolen Jacinthe, die ebenfalls in Pierreville lebt, sich schminkt und gerne aufreizend kleidet, zu einer Party eingeladen wird, scheint sich für Mylia eine Tür zu öffnen. Doch auf der Party fühlt sie sich nicht wohl. Oralverkehr mit Jungen wird für die Mädchen der Clique um Jacinthe zur Bewährungsprobe; wer nicht mitmacht, gilt als kindisch. Mylia macht nicht mit. Sie versteht gar nicht, worüber die Mädchen reden und was vor sich geht. Stattdessen betrinkt sie sich aus Unsicherheit – und landet so auf dem Heimweg unfreiwillig im Haus von Jimmy, der sie auf der Straße aufliest.

Je mehr Zeit Mylia in der Folge mit Jimmy verbringt, desto deutlicher wird, wie hin- und hergerissen sie ist. Noch hat sie nicht den Mut, wie Jimmy ihre eigenen Ziele zu verfolgen. Noch fühlt sie sich geschmeichelt, dass Jacinthe und die anderen Mädchen sie auch weiterhin umwerben und zu einer weiteren Party einladen. Jimmy warnt sie davor, sich zu verstellen und etwas zu tun, was sie gar nicht will.

Was Halt und Sicherheit gibt

„Une colonie‟ ist ganz nahe an den Figuren, vor allem an Mylia, die großartig von Emilie Bierre gespielt wird und in deren Gesicht sich all die Zerrissenheit und später auch Stärke von Mylia nuanciert spiegelt. Oft folgt die Kamera Mylia auf Schritt und Tritt und heftet sich an ihre Fersen; durch eine flache Tiefenschärfe löst sie sich aus ihrer Umgebung, was ihre kleine Welt veranschaulicht.

Den beengt wirkenden Schauplätzen der Schule oder der Partyräume, die von starren Erwartungshaltungen und Rollenmustern geprägt sind, stehen weite chaotische Außenräume und ein Wald gegenüber, in dem sich Mylia mit ihrer jüngeren Schwester Camille aus Holz eine kleine Hütte als Versteck vor der Welt gebaut hat. Die Szenen zwischen Mylia und Camille zählen zu den zärtlichsten des Films; sie zeigen die enge Bindung zwischen den Schwestern, die zwar in ihrer Art ganz unterschiedlich sind, sich aber Halt und Sicherheit geben.

Auf eigenen Beinen stehen und unabhängig sein

Der Film weitet das Thema, Teil einer Gemeinschaft zu werden, über die Gleichaltrigengruppe aus und streift am Rande die Ungleichbehandlung, die die Angehörigen der kanadischen First Nations erfahren. Aufgrund seiner Herkunft wird Jimmy ausgeschlossen. Im Unterricht werden Texte gelesen, die im Geiste des Kolonialismus geschrieben sind und Vorurteile gegenüber Angehörigen der First Nations sogar noch verstärken. Obwohl Mylia erkennt, wie überkommen diese Lesestücke sind und was sie für Jimmy bedeuten, trägt sie sie in der Schule auf Aufforderung der Lehrerin laut vor – was aus der Sicht von Jimmy einem Verrat gleichkommt und zu einem Bruch zwischen den Freunden führt.

Nur zum Ende hin wirkt „Une colonie‟ etwas überladen, wenn auch noch die Eheprobleme von Mylias Eltern zum Thema werden und Mylia ein weiterer Neuanfang bevorsteht. Aber die große Stärke des Films liegt in seiner optimistischen Botschaft, die sowohl über die Handlung als auch über die eindrucksvollen klaren Bilder vermittelt wird: Es geht darum, starre Formen zu ignorieren, auf eigenen Beinen zu stehen und unabhängig zu sein. Freiheit bedeutet, genau die Person zu sein, die man sein möchte – und sich dabei gut zu fühlen.

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