The Scarecrows

Drama | Tunesien/Marokko/Luxemburg/Frankreich 2019 | 97 Minuten

Regie: Nouri Bouzid

Zwei junge Frauen kehren aus dem Syrien-Krieg, wo sie von Dschihadisten sexuell versklavt wurden, heim nach Tunesien. Dort sehen sie sich mit Misstrauen und Verachtung konfrontiert. Tatkräftigen Beistand finden sie bei einer Menschenrechtsanwältin, einer Ärztin und einem jungen Homosexuellen. Eindringliches Außenseiterdrama, das die Langzeitfolgen des internationalen Terrorismus für die Herkunftsländer am Beispiel zweier weiblicher Opfer facettenreich aufzeigt. Die einfühlsame Inszenierung erfasst die klaustrophobische Atmosphäre um die Frauen ebenso souverän wie die patriarchalischen Denkstrukturen, die eine wirksame Aufarbeitung der Traumatisierung hemmen. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
LES ÉPOUVANTAILS
Produktionsland
Tunesien/Marokko/Luxemburg/Frankreich
Produktionsjahr
2019
Produktionsfirma
Mésanges/Lycia/Samsa
Regie
Nouri Bouzid
Kamera
Hatem Nechi
Musik
Riadh Fehri
Schnitt
Seifeddine Ben Salem · Ghalya Lacroix · Hafedh Laridhi
Darsteller
Nour Hajri (Zina) · Joumene Limam (Djo) · Afef Ben Mahmoud (Nadia) · Sondos Belhassen (Saieda, Zinas Mutter) · Noomen Hamda (Kamel, Zinas Vater)
Länge
97 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Drama

Ein Drama um zwei junge Tunesierinnen, die aus dem Syrien-Krieg in ihre Heimat zurückkehren, nachdem sie von Dschihadisten sexuell versklavt wurden. Zuhause schlägt ihnen Misstrauen und Verachtung entgegen.

Diskussion

Tunis 2013. Zurück in der Heimat werden die beiden tunesischen Mittzwanzigerinnen Zina und Djo, die aus Syrien fliehen konnten, inhaftiert. Ihr rechtlicher Status ist prekär, droht ihnen doch die Einweisung in Lager für extremistische Islamisten, die aus dem Herrschaftsgebiet des "Islamischen Staates" (IS) zurückgekehrt sind. Die engagierte Menschenrechtsanwältin Nadja bürgt jedoch bei den Sicherheitsbehörden für die Frauen und bekommt sie so frei.

Zusammen mit der Ärztin Dora und Zinas Mutter Saida bringt sie die traumatisierten Frauen in einer sicheren Wohnung unter. Zina, der man ihren zwei Monate alten Jungen weggenommen hat, weigert sich trotz des Drängens von Nadja, Anzeige gegen ihren Mann Salman zu erstatten, der sie nach einer muslimischen Blitzhochzeit nach Syrien mitgenommen und dort an einen Extremistenführer verkauft hatte. Während ihre Mutter sie liebevoll betreut, macht ihr Vater Kamel ihr heftige Vorwürfe und wird handgreiflich, weil er Zinas Verhalten als Schande betrachtet und sich ihrer schämt.

"Halal-Vergewaltigung"

Zina wirkt weniger traumatisiert als Djo, die ihr half, aus Syrien in den Libanon zu entkommen. Doch Djo ist nun schwanger und schweigt hartnäckig. Sie hat sich völlig in sich zurückgezogen und schreibt fortwährend ihre schrecklichen Erlebnisse in Syrien in eine Kladde und in arabischen Schriftzeichen an die Zimmerwand. Das Konvolut der Aufzeichnungen trägt den Titel "Halal-Vergewaltigung", also erlaubte Vergewaltigung. Lediglich Zinas Mutter gelingt es mit ihren selbst gefertigten Puppen, eine Art Zugang zu Djo zu finden. Diese Puppen, die im Film Vogelscheuchen genannt werden und bei Touristen sehr beliebt sind, verkauft sie an Händler in der Medina. Kurze Flashbacks visualisieren die erlittene Gewalt in Syrien, insbesondere die wiederholte Vergewaltigung der beiden Frauen.   

Nadja bittet den 21-jährigen Homosexuellen Driss, der ebenfalls gesellschaftlich geächtet ist und in Tunesien nicht studieren darf, sich um Zina zu kümmern. Zwischen beiden wächst bald ein Vertrauensverhältnis, das enger ist als das zwischen Zina und der Anwältin, die sich nicht sicher ist, ob Zina vielleicht doch noch auf Seiten der Terroristen steht. Schließlich findet Zina in Diss‘ Appartment Unterschlupf. Derweil ermittelt Nadja, wo sich Salman aufhält, und stellt ihn zusammen mit Zina öffentlich zur Rede.

Der erfahrene Drehbuchautor und Regisseur Nouri Bouzid, der 1945 in Sfax in Tunesien geboren wurde und gleich mit seinem ersten Langfilm "Mann aus Asche" (1986) über das Tabuthema Homosexualität auf den Filmfestspielen in Cannes für Furore sorgt, erzählt das Filmdrama über eine folgenschwere soziale Entwurzelung konsequent aus weiblicher Perspektive. Frauen sind in seinem Film, der auf dem Filmfestival in Venedig 2019 den Human Rights Award gewann, keineswegs auf die Opferrolle beschränkt; sie kämpfen als Mutter, Ärztin oder Mediziner hartnäckig für Gerechtigkeit und Menschenwürde. Männer kommen hier nur marginal vor, sie treten vor allem als Täter von sexueller Gewalt, Helfershelfer, Belästiger, Zuhälter oder übergriffiger Vater in Erscheinung. Die einzige positive Ausnahme ist der homosexuelle Außenseiter Driss.

Die Inszenierung macht eindrücklich die Verfassung der Figuren fühlbar

Eine unruhige Handkamera begleitet die Protagonistinnen oft hautnah und unterstreicht so visuell deren innere Zerrissenheit und psychologische Labilität. Sparsam eingesetzte musikalische Sequenzen unterstreichen die vorherrschende melancholische Stimmung, ohne sich in den Vordergrund zu drängen.

Als eher hinderlicher Störfaktor erweisen sich nur die häufigen Rückblenden, die die Traumata der Frauen beglaubigen und das Mitgefühl der Zuschauer wecken sollen, aber viel zu kurz sind, um die Ebene plakativer Bebilderungen und stereotyper Terrorismus-Darstellungen zu überschreiten. Dennoch gelingt es Bouzid, die Handlung in ein spannendes Porträt der Entwicklungen und Widersprüche der tunesischen Gesellschaft nach der Jasmin-Revolution von 2010/11 einzubetten. Überkommende Denkstrukturen des Patriarchalismus werden ebenso herausgearbeitet wie die Unterwanderung des Polizeiapparats mit islamistischen Sympathisanten oder das Spannungsverhältnis zwischen Tradition und Moderne. Besonders eindringlich vermag der Regisseur die klaustrophobische Atmosphäre um seine Hauptfiguren darzustellen, die sich immer wieder in geschlossenen Räumen aufhalten müssen, wobei er aus eigener Anschauung schöpfen kann: Von 1973 bis 1979 saß er wegen Mitgliedschaft in einer sozialistischen Organisation im Gefängnis.

Besonders scharf beleuchtet Bouzid die Heuchelei und die moralische Überheblichkeit, mit der die maskuline Bevölkerungshälfte auf die missbrauchten Frauen herabsieht, die zudem noch über soziale Medien stigmatisiert werden. Das gesamtgesellschaftliche Versagen, sich diesem Problem zu stellen, ist mit den Händen zu greifen.

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