Drama | USA/Mexiko 2021 | 92 Minuten

Regie: Lorenzo Vigas

Ein Jugendlicher aus Mexiko-Stadt soll im Norden des Landes die sterblichen Überreste seines verschwundenen Vaters abholen. Doch dann begegnet er einem quicklebendigen Mann, in dem er den vermeintlich Toten wiederzuerkennen glaubt, und heftet sich an dessen Fersen. Mit für ihn düsteren Folgen, denn der Mann ist in die ultrabrutalen Ausbeutungsstrukturen einer großen Fabrik verstrickt und spannt darin im Zuge des Mordes an einer aufmüpfigen Arbeiterin auch seinen Sohn ein. Ein eindringliches Drama, das aus der Perspektive eines Heranwachsenden die destruktive, zersetzende Wirkung krass ungerechter sozialer Verhältnisse in Mexiko sowie die Perpetuierung gewalttätiger Männlichkeit und krimineller Machtverhältnisse beleuchtet. (O.m.d.U.) - Sehenswert ab 16.
Zur Filmkritik

Filmdaten

Originaltitel
LA CAJA
Produktionsland
USA/Mexiko
Produktionsjahr
2021
Produktionsfirma
Ivanhoe Pict./Lucia Films
Regie
Lorenzo Vigas
Buch
Paula Markovitch · Lorenzo Vigas
Kamera
Sergio Armstrong
Schnitt
Pablo Barbieri Carrera · Isabela Monteiro de Castro
Darsteller
Hatzín Navarrete (Hatzín Leyva) · Hernán Mendoza (Mario) · Elián Gonzalez (Richi) · Cristina Zulueta (Norita) · Dulce Alexa Alfaro (Laura Morales)
Länge
92 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Drama
Externe Links
IMDb | TMDB | JustWatch

Mexikanisches Drama um einen Jungen, der in einem scheinbar Fremden seinen verschwundenen, totgeglaubten Vater wiederzuerkennen meint.

Diskussion

Ein paar wenige Bäume ragen aus der trockenen, weiten Landschaft fast überlebensgroß heraus und überschatten eine Grube. Auch wenn der Ort im Norden von Mexiko den Anschein einer Oase hat, handelt sich dabei um ein Massengrab. Eine Gruppe von Menschen aus der Hauptstadt reist an, um die Überreste zu identifizieren – im schlimmsten Fall die der eigenen Angehörigen. Auch der junge Hatzín (Hatzín Navarrete) ist gekommen, um die Gebeine seine Vaters Esteban abzuholen. Er weist die Vollmacht seiner Großmutter und eine Familienurkunde vor. Vier Unterschriften bei einer Beamtin reichen, und schon bekommt Hatzín eine Kiste mit den menschlichen Überresten ausgehändigt. Im Hintergrund hört man Frauen weinen. Der Junge verzieht aber keine Miene. Auch im Telefonat mit der Oma bestätigt er nochmal: „Ich weine nicht.“

Die Trauer des vaterlosen Sohns drückt sich nicht auf herkömmliche, melodramatische Weise in Tränen aus. Stattdessen verschiebt sich seine Wahrnehmung. Auf der Rückfahrt im Bus mit der Kiste auf dem Arm sieht Hatzín einen Mann auf der Straße, der seinem Vater optisch ähnelt. Der Junge steigt aus, spricht ihn an und verpasst sogar den Bus. So sehr ist Hatzín von dem Mann fasziniert. Dieser selbst (Hernán Mendoza) nennt sich aber Mario und streitet jegliches verwandtschaftliche Verhältnis ab. Der Junge lässt nicht locker. Die Kiste mit den Überresten bringt er zur Fundstelle zurück und sucht durch Herumfragen Marios Haus auf. Dieser ist zunehmend genervt von dem anhänglichen Jungen. Er setzt ihn schließlich sogar im mexikanischen Nirgendwo aus. Doch am nächsten Morgen liegt Hatzín schlafend in Marios Wagen. Dem Mann bleibt nichts anderes übrig, als den Jungen in seinem Leben aufzunehmen.

Ein Land mit vaterlosen Söhnen

Bereits in Lorenzo Vigas’ Spielfilmdebüt „Caracas, eine Liebe“ stand eine metaphorische Vater-Sohn-Beziehung im Zentrum, die innerhalb des Spannungsfeldes aus Sex, Gewalt und sozialer Ungleichheit eskaliert ist. In seinem neuen Film ergibt sich die Beziehung aus der Leerstelle des abwesenden beziehungsweise toten Vaters. Es bleibt lange Zeit nicht eindeutig klar, ob Mario tatsächlich Hatzíns biologischer Vater ist oder nicht. Viel interessanter ist die Frage, wie sich die neue oder wiedervereinte Vater-Sohn-Beziehung entwickelt. Anfangs gibt sich Hatzín sehr dankbar und gefügig gegenüber Mario. Er begleitet den Mann in die Textilfabriken, wo dieser die Aufsicht führt. Der Junge hilft ihm beim Anwerben von neuen Arbeitskräften und beim Kontrollieren der Anwesenheit.

Dass in diesem Mikrokosmos der Fabriken teilweise unzumutbare Zustände herrschen, registriert Hatzín eher später. Ein Mädchen in seinem Alter fragt ihn, ob sie überhaupt bezahlt werden. Der Junge weiß es selbst nicht. Ein anderes Mal beschwert es sich, zu viele Stunden am Stück gearbeitet zu haben. Mario ist aber kein Gewerkschaftsleiter. Im Gegenteil bedient er sich repressiver Methoden, um alle Arbeiter und Arbeiterinnen ruhig zu halten. Das bringt Hatzín dazu, die Beziehung zu seinem „Vater“ infrage zu stellen. Wie sehr er gegen ihn rebellieren kann oder wie wenig, hebt die Konstellation im Kleinen auf eine höhere gesellschaftliche Ebene.

Ehrliche Arbeit und ehrliches Geld

Im zeitgenössischen mexikanischen Kino stehen die Jugendlichen vor besonderen Umständen, wenn sie sich in der Coming-of-Age-Phase in der Welt zu verorten versuchen. In einem Land, das sich im Zwiespalt zwischen Kartell- und Korruptionskrieg und zwischen Reich und Arm befindet, führen die Filme vor, welche radikalen Entscheidungen die junge Generation treffen muss. Die häufigste Möglichkeit ist dabei die Flucht in die USA wie in „Sin nombre“, „I’m No Longer Here“ und „Was geschah mit Bus 670?“, wobei weder die Reise noch das Ziel immer die erhoffte Erleichterung mit sich bringen. Eine andere Option bietet die Revolution gegen die korrupte Oberschicht in „New Order“, doch diese fällt mindestens genauso gewalttätig und blutig aus wie das System, gegen das sie sich wendet.

In „The Box“ gliedert sich Hatzín zunächst widerstandslos in das etablierte Wirtschaftssystem ein, das auf den ersten Blick harmlos und stabil erscheint, sich dann aber als brutal ausbeuterisch entpuppt. Mario bietet Hatzín als neuer Vater eine Vorbildrolle, die aber zunehmend Brüche bekommt. Einmal lobt er die Familie als das Einzige, was am Ende im Leben zählt. Zu dem Zeitpunkt weiß Hatzín bereits, wie der Aufseher mit seinen „problematischen“ Mitarbeitern umgeht. Angesichts solcher Erkenntnisse bleibt nur noch die Option, sich von den alten Vätern völlig abzuwenden.

Kommentar verfassen

Kommentieren