Der Sog des Krieges - Eine Familiengeschichte

Dokumentarfilm | Deutschland 2020 | 118 Minuten

Regie: Christoph Boekel

Der Filmemacher Christoph Boekel setzt die Lektüre der Feldpost und Kriegstagebücher seines Vaters Walter Boekel (1914-1999) fort und rekonstruiert dessen Schicksal als Offizier des „Strafbataillons 999“ vom Herbst 1942 bis zur deutschen Kapitulation sowie nach dem Krieg bis zu seinem Tod und darüber hinaus. Schlaglichtartig werden die NS-Ideologie vom Herrenmenschentum deutlich, die auch in bürgerlichen Kreisen Eingang fand, sowie die psychischen Verheerungen, die nach der Kapitulation verdrängt wurden. Die redliche familiär-biografische Auseinandersetzung mit den tiefgreifenden Folgen des Krieges streift dabei auch die Wandlungen der deutschen Nachkriegsgesellschaft. - Ab 14.
Zur Filmkritik

Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2020
Produktionsfirma
Coin Film/Baum-Film/ZDF/3sat
Regie
Christoph Boekel
Buch
Christoph Boekel
Kamera
Axel Brandt · Hans Albrecht Lusznat
Musik
Mathis Nitschke
Schnitt
Thomas Balkenhol
Länge
118 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Ab 14.
Genre
Dokumentarfilm
Externe Links
TMDB

Dokumentarische Spurensuche des Filmemachers Christoph Boekel in der Feldpost und den Kriegstagebüchern seines Vaters, der im Zweiten Weltkrieg als Offizier einen Zug des „Strafbataillons 999“ kommandierte.

Diskussion

Es entbehrt nicht einer bitteren Ironie, wenn am Ende von Christoph Boekels dokumentarischer Recherche „Der Sog des Krieges – Eine Familiengeschichte“ sein eigener Vater, der deutsche Wehrmachtsoffizier Walter Boekel (1914-1999), von der Sinnlosigkeit des Krieges, ja jedes Krieges, spricht, jetzt, da Europa sich in der Ukraine des russischen Angriffs zu erwehren versucht. Die Worte des alten Mannes stammen aus einem früheren Film von Boekel, „Die Spur meines Vaters“ (1989), in dem der Sohn dessen Feldpost und Kriegstagebücher aus dem Russlandfeldzug auswertete; der Waffengang war für Boekel senior aber nach zehn Monaten an Weihnachten 1941 vor Moskau schnell zu Ende. Beim ersten Film ging es um die grausame Historie des Überfalls auf die Sowjetunion und um einen späten, nachholenden Dialog zwischen Vater und Sohn. Im neuen Film, den man durchaus eine Fortsetzung nennen könnte, liegt der Fokus zwar erneut auf der Lektüre des schriftlichen Nachlasses, doch diesmal ist das Interesse auf Boekels „Karriere“ nach dem Einsatz in Russland gerichtet und auf die zerstörerischen Folgen des Krieges, für die Täter, aber auch für deren Nachfahren.

Im Kontext des aktuellen Ukrainekriegs wirkt das seltsam aus der Zeit gefallen, selbst wenn man die lange Entstehungszeit von „Der Sog des Krieges“ berücksichtigt, der bis ins Jahr 2007 zurückreicht und erst nach einem wahren Produktions- und vor allem Finanzierungsmarathon fertiggestellt werden konnte. Lässt man die gegenwärtigen Zeitläufte aber einmal beiseite, enthüllt sich die solide Dokumentation als spannende Familienbiografie aus der Sicht eines Sohnes und seiner beiden Brüder. Jetzt steht insbesondere die Zeit von Herbst 1942 bis zur Kapitulation des Dritten Reichs im Zentrum sowie Reflexionen der zwischenzeitlich ebenfalls ergrauten Kinder auf den schon lange verstorbenen Vater.

„Cherie“ an „Cherielein“

Die filmische Struktur geben dabei die vielen, meist mit der Hand geschriebenen Briefe vor, die „Cherie“ seinem „Cherielein“ Hedwig Boekel in die Heimat nach Göttingen schickte und in denen Boekel senior mit literarischer Könnerschaft und einer feinen Beobachtungsgabe von seinem Leben als Offizier der im Frühjahr 1942 ausgestellten „Strafdivision 999“ berichtet, in der deutsche Strafgefangene und politisch Verfolgte zum Soldatendienst in der Wehrmacht gezwungen wurden. Was der Soldat, der in Freiburg Philosophie und Zeitungswissenschaften studiert hatte, seiner Frau nicht anvertrauen wollte, etwa den von ihm minutiös konzipierten Ablauf einer standrechtlichen Erschießung, wird aus Akten oder seinen Kriegstagebüchern beigesteuert.

Aus diesen Texten speist sich eine weitgehende chronologische Rekonstruktion von Boekels Kriegszeit, die ihn mit seiner Division nach der Ausbildung auf der Schwäbischen Alb über Belgien, Südfrankreich und Neapel bis nach Tunesien führt und später an die dalmatische Küste; dort überlebte Boekel den Krieg, weil ihn kroatische Zivilisten nach einer lebensgefährlichen Verletzung zum Verbandsplatz schleppten.

Auf der Bildebene trägt der Film viele Aufnahmen von Originalschauplätzen zusammen, die der Filmemacher auf den Spuren der literarischen Hinterlassenschaft seines Vaters mit detektivischem Gespür recherchierte. Wo dies nicht möglich war, füllen Familienfotos und Postkarten oder geografische Erkundungen die Lücke. Darin ist die biografische Nähe des Regisseurs zu spüren, ein vergegenwärtigend-rekonstruierender Gestus, auf der Suche nach dem, der in den Worten der Mutter als „völlig anderer Mann“, als Fremder aus dem Krieg zurückkehrte und sich dann kopfüber in den Stress des Journalismus flüchtete, um seine inneren Dämonen abzuwehren; erst nach der Pensionierung halfen auch Alkohol und Amphetamine nicht mehr weiter und musste sich der schwer depressive Vater in psychotherapeutische Behandlung gegeben. Die Mutter macht das nicht so lange mit, sondern ließ sich 1958 scheiden, wodurch die Söhne weitgehend ohne Vater aufwuchsen.

Epitaph für einen verhinderten Schriftsteller

„Der Sog des Krieges“ ist ein Epitaph für einen verhinderten Schriftsteller, der nicht willens oder aber gut beraten war, sein während des Krieges gesammeltes Material in den Jahrzehnten nach der Kapitulation zu einem Roman zu formen; denn aus heutiger Sicht hätte Boekel senior im Spiegel seiner säuberlich notierten Zeilen in den Abgrund einer mörderischen Ideologie geschaut, die sich so erst Jahrzehnte später, im „Ruhestand“, auch äußerlich tief in seine traurige Physiognomie einschrieb.

Ähnlich wie die väterlichen Notizen beleuchtet auch der Film schlaglichtartig einzelne Momente, Zitate und Erinnerungssplitter, in denen der Krieg als kalte, alles zermalmende Maschinerie greifbar wird, gespeist aus Größenwahn, Unmenschlichkeit und Drogen wie Pervitin, mit dem die deutschen Offiziere sich gegen schwache Momente zu schützen versuchten, in denen ihr Glaube ans Herrenmenschentum vielleicht hätte brüchig werden können.

Bezeichnenderweise spielt die Mutter Hedwig Boekel in „Der Sog des Krieges“ kaum eine Rolle; ihre Korrespondenz an den Vater ist nicht erhalten; in den spärlichen Fotografien lässt sich aber die Befreiung vom „Cherielein“ erahnen, da ihre Züge sich im Laufe der Jahrzehnte strecken und freundlichere Konturen gewinnen, im Gegensatz zum wachsenden Gram des Vaters. Ansatzweise streift der redliche Film in seiner biografisch-familiären Auseinandersetzung mit den tiefreichenden Folgen des Zweiten Weltkrieges so die komplexen gesellschaftlichen Wandlungen der deutschen Nachkriegsgesellschaft, die sich jetzt, in der aktuellen Gegenwart, durch die großrussischen Ansprüche plötzlich vor ganz andere Herausforderungen gestellt sieht.

Kommentar verfassen

Kommentieren