Drama | Deutschland 2022 | 71 Minuten

Regie: Anton von Heiseler

Eine Frau mittleren Alters, die mit ihrer pflegebedürftigen Mutter in einer kleinen Wohnung einer Berliner Plattenbausiedlung haust, beobachtet mit ihrer Kamera heimlich eine junge Frau, die im Hochhaus gegenüber lebt. Obsessiv fantasiert sie sich in deren Welt hinein, bis sie eines Tages etwas beobachtet, das alles verändert. Ein eindringliches, zwischen dokumentarischer Härte und ästhetischen Grenzgängen changierendes Kammerspiel im Spannungsfeld von Nähe und Distanz, flirrender Fantasie und trister Realität. - Ab 14.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2022
Produktionsfirma
Filmuniversität Babelsberg Konrad Wolf
Regie
Anton von Heiseler
Buch
Anton von Heiseler · Maximilian Rummel · Andreas Koch
Kamera
Lucas Heinze
Musik
Lukas Zepf · Justin Robinson
Schnitt
Benedikt Strick
Darsteller
Michaela Caspar (Lana) · Maria Luise Preuß (Maria) · Emilia von Heiseler (Vivi) · Lucas Lentes (Gaspar)
Länge
71 Minuten
Kinostart
11.05.2023
Pädagogische Empfehlung
- Ab 14.
Genre
Drama
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Eine ältere Frau beobachtet mit ihrer Videokamera eine junge Frau im Haus gegenüber und fantasiert sich in deren Existenz hinein.

Diskussion

Geduldig zoomt die Kamera an die grau betonierte Fassade des vielstöckigen Plattenbaus heran. Draußen dämmert es. Orangefarben-gelbes, manchmal auch bläulich-violettes Licht flackert aus den erhellten Fenstern wie aus den geöffneten Türchen eines überdimensionierten Adventskalenders, hinter denen sich unbekannte Miniaturwelten verbergen. Hier und da lassen sich menschliche Schemen erahnen; Gestalten tauchen auf und verschwinden wieder. Eine Frau reckt auf einem Balkon die Hände in die Luft, offenbar um sich zu dehnen. Ein Mann könnte möglicherweise Gitarre spielen, scheint dann aber auf eine Leiter zu steigen.

Der Ausschnitt, den die Kamera einfängt, wird kleiner, die Fenster werden größer, die Aufnahmen grobkörniger. Nach und nach verschwinden die anderen Leben im Off, bis nur noch eines im Blick bleibt: eine Frau am Fenster, den Kopf gesenkt, schräg, wie auf ihre Hand gestützt. Während die Kamera näher und näher an sie heranzoomt, zerfällt ihr Gesicht zu einem wuselnden Pixelhaufen.

Rote Haare, weißes Unterhemd

Knapp drei Minuten dauert diese faszinierende, lediglich von den abendlichen Straßengeräuschen untermalte urban-poetische Annäherung. Dann rückt in einem kargen Raum voller Aktenordner die Person ins Bild, die mit dem Objektiv ihrer Digicam die Distanz zwischen den beiden Hochhäusern zu überwinden versuchte: eine Frau mittleren Alters im weißen Unterhemd, das rotgefärbte Haar ungekämmt, den Blick auf den ausgeklappten Bildschirm des Camcorders gerichtet.

153 Meter Luftlinie, so suggeriert es der Filmtitel, trennen die beiden Leben hinter der Kamera und hinter dem Fenster; genug, um sich aus dem einen in das andere hineinzuträumen.

Lana (Michaela Caspar), die als Hausmeisterin in der Plattenbausiedlung arbeitet und ihre kleine Wohnung mit ihrer pflegebedürftigen Mutter (Maria Luise Preuß) teilt, um die sie sich freudlos routiniert und immer widerwilliger kümmert, beobachtet die junge Frau gegenüber (Emilia von Heiseler) Abend für Abend durch die Kamera; sie filmt sie heimlich beim Tanzen und ahmt ihre Bewegungen hinterher mit einem grotesk verzerrten Lächeln nach.

Ein Wechselspiel aus Nähe und Distanz bestimmt den dramaturgisch-visuellen Rhythmus im Spielfilmdebüt von Anton von Heiseler, das als Zweitjahresfilm im Rahmen seines Regiestudiums an der Filmuniversität Babelsberg entstand. Die Sehnsucht nach Nähe stößt dabei an optische Grenzen, wenn sich der heimlich beobachtete Liebesakt im gegenüberliegenden Haus in einem vagen Pixelreigen auflöst. Auf der anderen Seite wird Lanas Ringen um Abstand zu ihrer Mutter aber in schamlos-dokumentarischer Direktheit festgehalten. Das Essen, das Lana mürrisch auftischt („Maria, essen!“) und in dem ihre Mutter lustlos herumstochert, und die ruppigen Wasch- und Pflegerituale („Maria, aufstehen!“) führen den tristen Alltag entblößter Körper und Seelen unbarmherzig vor.

Anstrengend schön

Das alles wirkt ein wenig, als habe man Antonioni und Hitchcock dazu genötigt, gemeinsam einen Film im Stil der Berliner Schule zu drehen. Lanas sture Mutter, die auf keinen Fall ins Pflegeheim will, ist der inkarnierte Gips aus Hitchcocks „Das Fenster zum Hof“, der Lana an die Wohnung fesselt. Und als Lana im Pixelrauschen zu erkennen glaubt, dass die junge Frau gegenüber von ihrem Freund geschlagen wird, hat „153 Meter“ auch seinen „Blow up“-Moment. Wo Antonioni aber die Unschärferelationen der Wahrnehmung filigran auslotet, lässt von Heiseler Fantasie und Wirklichkeit brachial aufeinanderprallen, als Lana plötzlich beim Objekt ihres voyeuristischen Begehrens an der Tür klingelt.

Von Heiseler inszeniert mit einem kleinen, familiären Ensemble (seiner Großmutter, Mutter und Zwillingsschwester) ein beklemmend-verstörendes, kraftvoll-intimes Kammerspiel um die Zwänge und Sehnsüchte eines unscheinbaren Lebens. Ein ebenso lähmender wie berauschender Film, mal verkopft konstruierte Stilübung, dann wieder surreal anmutig und ergreifend echt. Anstrengend schön.

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