The Lost Souls of Syria

Dokumentarfilm | Frankreich/Deutschland 2022 | 99 Minuten

Regie: Garance LeCaisne

Über fünf Jahre verfolgt der Film die juristischen Konsequenzen der „Caesar-Akten“, die 27.000 digitale Fotografien von zu Tode gefolterten syrischen Oppositionellen umfassen. Ein Überläufer des syrischen Sicherheitsapparates hatte sie 2013 öffentlich gemacht. Im UN-Sicherheitsrat unterbanden Russland und China eine Ahndung der Verbrechen durch den Internationalen Strafgerichtshof. Zwei Angehörige gaben aber nicht auf und kämpften vor europäischen Gerichten um eine Anklage gegen den syrischen Staatsapparat. Die Dokumentation nimmt mit ruhiger Unmittelbarkeit Anteil an ihrem schmerzhaften Kampf um Gerechtigkeit. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
THE LOST SOULS OF SYRIA | LES ÂMES PERDUES
Produktionsland
Frankreich/Deutschland
Produktionsjahr
2022
Produktionsfirma
Sophie Dulac Prod./Les Films d'Ici/Katuh Studio/Special Touch Studios/WDR - Westdeutscher Rundfunk
Regie
Garance LeCaisne · Stéphane Malterre
Buch
Garance LeCaisne · Stéphane Malterre
Kamera
Thibault Delavigne · Beate Scherer
Musik
Gregor Keienburg · Raffael Seyfried
Schnitt
Sébastien Touta
Länge
99 Minuten
Kinostart
02.02.2023
Fsk
ab 16; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Dokumentarfilm
Externe Links
IMDb | TMDB

Intensive Dokumentation über den juristischen Kampf einer kleinen Gruppe von Angehörigen und deren Anwälten, Menschenrechtsverletzungen in Syrien vor europäischen Gerichten zu verhandeln.

Diskussion

Eine unheimliche Geräuschkulisse vor einem längeren Schwarzbild. Das monotone Sirren von Leuchtstoffröhren wird durch stakkatohafte Schritte unterbrochen, die sich langsam nähern. Assoziationen an Gefängniszellen und Verhöre kommen einem in den Sinn, wenn das erste Bild einen kahlen, grauen Boden zeigt. Die Beine einer elegant gekleideten Frau irritieren die Erwartungen. Mit ihrem schwarzen Bleistiftrock und den zierlichen Absatzschuhen, deren Hall den Raum erfüllt, wirkt sie wie ein fragiler Fremdkörper an einem Ort der Trostlosigkeit. Ihre Schritte nähern sich einer flachen Glasvitrine, in der Fotografien ausgestellt sind. Die Bilder zeigt die Kamera zunächst nur vermittelt durch eine Nahaufnahme der Betrachterin. Ungläubigkeit, Schmerz und Bestürzung spiegeln sich in ihrer Mimik. Im Gegenschuss sieht man, aus einer hautfarbenen Unschärfe heraus, die Aufnahme eines nackten, von Blutspuren überzogenen Körpers. Einzelne Glieder seiner Finger sind gewaltsam abgetrennt, der Arm von Wundschorf überzogen. Immer wieder springt das Bild zwischen dem Akt des Betrachtens und den Fotografien hin und her; das deutet an, dass es der Kraft eines empfindsamen Blickes bedarf, um mit der maßlosen Gewalt der Folter zu konfrontieren.

Aus dem Off sind die Gedanken der Betrachterin zu hören, der Menschenrechtsanwältin Almudena Bernabeu. Die von ihr besuchte Ausstellung „Codename: Caesar“ in Rom hat weitreichende politische Implikationen. Denn die dort gezeigten Aufnahmen stammen von einem ehemaligen Fotografen der syrischen Militärpolizei. Während der Aufstände gegen das Assad-Regime im Zuge des „arabischen Frühlings“ bestand seine Aufgabe darin, die Körper der in der Haft Ermordeten minutiös für die Akten zu dokumentieren. Als sich die misshandelten Leichname häuften, begann der Fotograf unter Einsatz seines Lebens, die digitalen Fotografien heimlich zu kopieren und mithilfe eines Freundes außer Landes zu schaffen.

Verbrechen gegen die Menschlichkeit

Die rund 27.000 Bilder des anonymen, sich selbst „Caesar“ nennenden Überläufers begannen in den sozialen Netzwerken zu zirkulieren. Hinterbliebene erkannten in den entstellten Körpern ihre ermordeten Angehörigen. Viele der Opfer waren Jahre zuvor verhaftet worden oder spurlos verschwunden. Nachfragen an die Regierung blieben unbeantwortet. Oftmals befanden sich die Deportierten nicht in regulären Gefängnissen, sondern wurden in einem weitläufigen Netz militärischer Anlagen um Damaskus festgehalten und misshandelt.

Mit den Fotografien als einem umfangreichen Zeugnis massiver Menschenrechtsverletzungen war zugleich die Hoffnung auf eine Intervention der Weltgemeinschaft verbunden. 2014 wurde auf der Basis der „Caesar-Akten“ im UN-Sicherheitsrat versucht, den Internationalen Strafgerichtshof gegen das Regime von Baschar al-Assad ermitteln zu lassen. Doch Vetos von Russland und China blockierten die Eröffnung eines Verfahrens; damit schien zugleich die öffentliche Anklage der Verbrechen vom Tisch gefegt zu sein.

Bei einer etwa zeitgleichen Veranstaltung der UN Genf wurden 2014 aber auch der Filmemacher Stéphane Malterre und die Journalistin Garance Le Caisne auf die Fotografien aufmerksam. Beide hatten schon in den Jahren zuvor die Geschehnisse in Syrien dokumentiert. Malterre wurde 2013 für seine Kriegsberichterstattung ausgezeichnet; 2016 sorgte er mit seinem in Syrien gedrehten Film „The Father, the Son and the Jihad“ auf Festivals weltweit für Aufsehen. Die Journalistin Garance Le Caisne stieß als Co-Autorin zu „The Lost Souls of Syria“ hinzu. Es gelang ihr, den Fotografen ausfindig zu machen und für einen Bericht zu gewinnen. Ihr Austausch lässt sich in dem Band „Codename Caesar: Im Herzen der syrischen Todesmaschinerie“ nachlesen, der zu den eindrücklichsten Zeugnissen der Foltergefängnisse zählt und mit dem Geschwister-Scholl-Preis ausgezeichnet wurde.

Vor den Toren der Gerichte Europas

Die Schilderungen Caesars wurden zum Ausgangspunkt des Filmprojekts. Anonymisiert durch Maske und Verkleidung sowie unkenntlich gemachter Stimme ist der Fotograf in mehreren Szenen zu sehen. Das Herzstück von „The Lost Souls of Syria“ bilden jedoch zwei Fallgeschichten von Hinterbliebenen, die auf der Basis von Caesars fotografischen Beweisen juristische Verfahren gegen das Assad-Regime anzustrengen versuchten. Sie begaben sich damit in die Wirrnisse zwischen nationaler und internationaler Rechtsprechung.

Möglich wurden die Gerichtsverfahren schließlich doch, weil in beiden Fällen eine doppelte Staatsbürgerschaft von Opfern und Angehörigen vorlag. In Madrid erlaubte dies der Friseurin Amal, sich mit den Aufnahmen ihres ermordeten Bruders an die Menschenrechtsanwältin Almudena Berabeu zu wenden. Deren Verein „Guernica 37“ vertritt weltweit Folteropfer und hat schon öfters zur Verurteilung von Kriegsverbrechern beitragen.

Der syrisch-französische Ingenieur Obeïda Dabbagh ist ebenfalls ein Angehöriger eines Inhaftierten. Das Schicksal seines Bruders Mazzen und dessen 20-jährigem Sohn Patrick ist zu Beginn des Films noch unklar. Die Pariser Anwältin Clémence Bectarte von der Internationalen Förderation für Menschenrechte (FIDH) nimmt sich des Falles an, doch das juristische Vorgehen hat viele unwägbare Konsequenzen.

Nahaufnahme einer Suche nach Gerechtigkeit

Malterre und Le Caisne fokussieren mit großer Intensität auf das Erleben der Protagonisten. Im Unterschied zu vielen aktivistischen Dokumentationen vermeiden sie erläuternde Außenperspektiven. Kommentarlos begleitet der Film die beiden Kläger auf ihrem schmerzhaften Weg vor Gericht und gibt ihrer Ohnmacht und Trauer ebenso Raum wie der Kraft, mit der sie für ihre Angehörigen eintreten. In den Gesprächen mit den Anwälten bleibt die Kamera nahe an ihren Gesichtern. Damit erzeugt der Film eine intensive Anteilnahme und evoziert eine fast klaustrophobische Spannung. Die Erhebung der Klage kann Amals Familie in Syrien in Lebensgefahr bringen, sie kann für Obeïdas Angehörige in der Haft sowohl Rettung wie auch Tod bedeuten. Was Willkür juristisch für Menschen heißt, wird eindringlich klar, ohne dass die filmische Nähe ins Obszöne kippen würde.

Einmal treffen Almudena Berabeu und ihre Kollegen den syrischen Überlebenden Mazen al-Hamada. Mit Hilfe eines Übersetzers schildert er die grausamen Details seiner Misshandlungen, bis hin zu einer Verstümmelung seiner Geschlechtsorgane. Als er daraufhin zu weinen beginnt, ist die Hilflosigkeit der Gesprächspartner und ihr regungsloses Schweigen unerträglich. Die Nahaufnahme von Mazen fängt seinen Gesichtsausdruck schmerzhafter Überwältigung ein. In solchen Augenblicken zeigt sich das kritische Potential des Films, der von jedem Opferpathos Abstand nimmt.

Der Streit um Gerechtigkeit hat mit moralischer Heldenhaftigkeit wenig zu tun. Es ein Kampf, den sich niemand ausgesucht hat. Auch die Anwälte und Aktivisten haben ihre Ambivalenzen; sich für das Schicksal anderer einzusetzen, bedingt noch nicht, dass man auch helfen oder auch nur die Tragweite des Leids der anderen verstehen kann.

Sich mit der Gewalt konfrontieren

Entgegen den Erwartungen lehnen es die juristischen Instanzen in Spanien und Frankreich zunächst ab, Anklage zu erheben, auch wenn es sich bei den Ermordeten juristisch um Bürger ihrer Länder handelt. „The Lost Souls of Syria“ dokumentiert auch diese Verwerfungen nüchtern mit bedächtigen Zwischenbildern.

Es ist schließlich Deutschland, das sich als erstes Land bereit erklärt, die „Caesar-Akten“ forensisch auszuwerten und die verantwortlichen Täter anzuklagen. 2022 kommt es zu einem historischen Urteil vor dem Oberlandesgericht Koblenz, in dem zwei geflüchtete Mitglieder des syrischen Militärapparats ausfindig gemacht und aufgrund von Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilt werden. Das ist ein erster Moment der Hoffnung, der am Ende der Dokumentation aufscheint.

Das im Film nicht mehr weiterverfolgte Schicksal von Mazen al-Hamada nimmt diesen Eindruck jedoch etwas zurück. Er war im Laufe der letzten Jahre von vielen NGOs weltweit eingeladen worden, um als Überlebender von der Folter zu berichten. Doch seine Lebenssituation verbesserte sich nicht. Die mediale Aufmerksamkeit blieb einseitig und verschlimmerte seine Traumatisierung wohl noch. Als Flüchtling in den Niederlanden fand er weder adäquate therapeutische noch soziale Unterstützung für sich. Er klagte darüber, dass die Tragweite der Gewalt von der Gesellschaft nicht verstanden wurde und wie sehr er unter der anhaltenden Straflosigkeit litt. Seine Entscheidung, im Frühjahr 2020 nach Syrien zurückzukehren und sich damit dem sicheren Tod durch das Regime auszuliefern, ist erschütternd; sie zeigt, dass Zuhören allein nicht genug ist.

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