Divertimento - Ein Orchester für alle

Drama | Frankreich 2022 | 115 Minuten

Regie: Marie-Castille Mention-Schaar

Zwei 17-jährige Zwillingsschwestern aus einer Pariser Vorstadt wollen in den 1990er-Jahren Dirigentin beziehungsweise Cellistin werden, stoßen aber sowohl im Gymnasium wie im Konservatorium auf große Widerstände. Deshalb beschließen sie, ein eigenes Orchester zu gründen, das Musiker aus allen Kulturen offensteht. Das biografische Sozialdrama stützt sich auf die Lebensgeschichten von Zahia und Fettouma Ziouani, die als Töchter algerischer Einwanderer 1998 das Sinfonie-Orchester Divertimento gründeten. Der konventionell erzählte, aber einfühlsame Film kritisiert Frauenfeindlichkeit, Rassismus und Klassendünkel und entschädigt für Klischees mit schwungvollen Musikdarbietungen. - Ab 12.
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Filmdaten

Originaltitel
DIVERTIMENTO
Produktionsland
Frankreich
Produktionsjahr
2022
Produktionsfirma
Easy Tiger/Estrello Films/France 2 Cinéma
Regie
Marie-Castille Mention-Schaar
Buch
Clara Bourreau · Marie-Castille Mention-Schaar
Kamera
Naomi Amarger
Musik
Elise Luguern
Schnitt
Benoît Quinon
Darsteller
Oulaya Amamra (Zahia Ziouani) · Lina El Arabi (Fettouma Ziouani) · Niels Arestrup (Sergiu Celibidache) · Nadia Kaci (Zahias Mutter) · Zinedine Soualem (Zahias Vater)
Länge
115 Minuten
Kinostart
15.06.2023
Fsk
ab 6; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 12.
Genre
Drama | Musikfilm
Externe Links
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Heimkino

Die Extras umfassen u.a. ein längeres Interview mit Zahia Ziouani und Oulaya Amamra (23 Min.)

Verleih DVD
Prokino (16:9, 2.35:1, DD5.1 frz./dt.)
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Einfühlsames Filmporträt über zwei algerisch-stämmige Jugendliche aus einer Pariser Vorstadt, die als Musikerinnen Karriere machen wollen, aber auf große Hindernisse stoßen.

Diskussion

1995 besuchen die 17-jährige Zahia Ziouani (Oulaya Amamra) und ihre Zwillingsschwester Fettouma (Lina El Arabi) die Abschlussklasse des renommierten Gymnasiums Racine in Paris. Die jungen Frauen, die mit ihrer Familie in der Pariser Vorstadt Stains wohnen, begeistern sich für klassische Musik. Fettouma spielt Cello und möchte sich als Konzertsolistin etablieren, Zahia spielt Bratsche und will unbedingt Dirigentin werden. Mit ihren Ambitionen stoßen die beiden an ihrer Schule, an der sich vor allem Heranwachsende aus reichen Familien tummeln, aber auch im Konservatorium und bei Wettbewerben auf erhebliche Widerstände. Vor allem Zahia sieht sich mit rassistischen Vorurteilen konfrontiert: Eine Frau mit Wurzeln im Maghreb aus einem Arbeiterviertel als Dirigentin eines Orchesters? Das können sich viele nicht vorstellen.

Doch Zahia ist intelligent, fleißig und zäh. Als sie dem berühmten Dirigenten Sergiu Celibidache (Niels Arestrup) begegnet, erkennt der ihr Talent und lädt sie in seine Meisterklasse ein. Zwar hat auch der autoritäre Celibidache Vorurteile gegenüber Musikerinnen und behandelt Zahia wie auch seine anderen Schüler oft ruppig; er gibt ihr aber auch wertvolle Ratschläge und bestärkt sie in ihrem Vorhaben.

Doch der Weg in das elitäre Imperium der professionellen klassischen Musik ist mit Dornen gespickt. Nach einem Rückschlag schlägt Fettouma ihrer Schwester vor, gemeinsam ein unabhängiges Orchester zu gründen, das junge Talente aus allen Milieus und Kulturen vereinen soll. Doch damit handelt sich das Duo neue Probleme ein.

Spannende Geschichten nach realem Vorbild

In ihrem siebten Spielfilm befasst sich die französische Regisseurin Marie-Castille Mention-Schaar erneut mit einem Sujet aus ihrem bevorzugten Themenkreis: spannende Geschichten nach realen Vorbildern aus der jungen Generation. So motivierte in „Die Schüler der Madame Anne“ (2014) eine Lehrerin ihre Klasse, an einem Wettbewerb zum NS-Regime teilzunehmen; in „Der Himmel kann warten“ (2016) wandten sich zwei französische Mädchen zum Entsetzen ihrer Eltern islamischen Terrorgruppen zu.

In ihrem jüngsten Werk greift Mention-Schaar die Lebensgeschichten von Zahia und Fettouma Ziouani auf, die 1998 mit 21 Jahren das Sinfonie-Orchester „Divertimento“ gründeten, das 70 Musiker aus der Region Île-de-France vereint. Die vielfach ausgezeichnete Zahia Ziouani leitet das Orchester bis heute, die erfolgreiche Konzertsolistin Fettouma Ziouani ist deren Solo-Cellistin. Im Abspann des Films erfährt man, dass Divertimento bisher mehr als 1000 Konzerte rund um den Globus gegeben hat. 2008 gründeten die Schwestern die Académie Divertimento, die jedes Jahr über 500 junge Musiker ausbildet.

Mention-Schaar ist seit Kindertagen mit klassischer Musik vertraut. Ihr Vater war Pianist und Dirigent, eine Großmutter Geigerin und Musiklehrerin, die ihr das Klavierspiel beibrachte. Bekannte Werke berühmter Komponisten von Ravel bis Prokofjew spielen auch in „Divertimento“ eine zentrale Rolle, wenn Zahia und Fettouma sie bei Proben, Wettbewerben und Konzerten inthonieren. Bei der Auswahl der meist populären Stücke ließ sich die Regisseurin von der Hoffnung leiten, damit ein breites Publikum fesseln zu können.

Musik ist ihr Leben

Auch wenn die ehrgeizige Zahia ihr Mantra „Musik ist mein Leben“ gelegentlich allzu pathetisch vor sich herträgt, so erfüllt die Regisseurin diese Parole doch sinnfällig mit Leben: Immer wieder lässt sich die angehende Dirigentin von alltäglichen Geräuschen und Klängen wie dem rhythmischen Vibrieren von Stahlträgern unter einer Brücke oder dem mütterlichen Rühren von Kuchenteig inspirieren und schlägt so den Bogen zu den Musikstücken, die sie sich gerade erarbeitet.

Offenkundig bemüht sich die Regisseurin, die ermutigende Story über zwei Underdogs nicht zu sehr in die Pfade typischer Kino-Erfolgsgeschichten rutschen zu lassen. Dazu bettet sie die Heldinnenreise in die ausgiebige Schilderung der Milieus ein, die zuweilen allerdings etwas holzschnittartig gerät. Das Doppel-Biopic ist konventionell, aber mit Passion erzählt und übt prägnante Kritik an frauenfeindlichen und rassistischen Einstellungen der Entscheidungsträger in Bildungswesen und Musikeinrichtungen sowie an der Arroganz der Jugendlichen aus den wohlhabenden Pariser Vierteln gegenüber Heranwachsenden aus den verarmten Banlieues.

Deutliche Schwächen zeigt das Sozialdrama über ein feminines Empowerment bei den Dialogen, die unnötig platt daherkommen. Etwa wenn Zahias härtester Rivale ihr im Klassenzimmer zuruft: „Mach ruhig beim Wettbewerb mit, aber vergiss nicht, wo dein Platz ist.“ Oder wenn der aufbrausende Celibidache Zahia mit Blick auf die Schwester tröstet: „Es verlieht einem unglaubliche Kraft, zu zweit zu sein.“ Auf der anderen Seite zeigt der Film aber auch mehrmals, wie einige der Jugendlichen aus den konträren Milieus ihre Vorurteile überwinden, etwa indem sie gemeinsam eine Mutprobe bestehen. So schaffen sie am Ende die Voraussetzung dafür, als Klangkörper eine performative Einheit zu werden.

Authentische Atmosphäre

In Oulaya Amamra und Lina El Arabi hat die Regisseurin zwei überzeugende Hauptdarstellerinnen gefunden, die als Schwestern glaubhaft harmonieren. Markante Auftritte als übellauniger und übergewichtiger Maestro Celibidache steuert Niels Arestrup bei. Dass Mention-Schaar fast alle Rollen mit Darstellern besetzen konnte, die ein Instrument beherrschen, verstärkt die authentische Atmosphäre.

So erfreulich die Karrieren der Zwillingsschwestern wider aller Erwartungen verlaufen sind, so deutlich belegen zwei Zahlen im Abspann, wie weit der Weg bis zur Chancengleichheit zwischen den Geschlechtern gerade in der Musikbranche noch ist: Bis heute sind weltweit nur sechs Prozent aller Dirigenten Frauen; in Frankreich sind es sogar nur vier Prozent.

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