Drama | Frankreich 2021 | 80 Minuten

Regie: Marion Desseigne Ravel

In einem Pariser Vorort verlieben sich zwei heranwachsende Mädchen aus rivalisierenden Cliquen ineinander. Mit ihrer heimlichen Romanze verstoßen sie nicht nur gegen die ungeschriebenen Regeln ihrer Gruppen, sondern auch gegen die tiefsitzenden sexuellen Tabus der rauen Vorstädte in einem islamisch-konservativen Umfeld. Ein überzeugendes, mit bemerkenswerter Reife umgesetztes Regiedebüt über eine überwältigende, zärtliche Liebe. Von den charismatischen Darstellerinnen ebenso glaubhaft verkörpert wie feinsinnig-kraftvoll inszeniert. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
LES MEILLEURES
Produktionsland
Frankreich
Produktionsjahr
2021
Produktionsfirma
Tripode Prod./31 Juin Films/France 2 Cinéma/Le Pacte/France Télévisions Ciné +
Regie
Marion Desseigne Ravel
Buch
Marion Desseigne Ravel
Kamera
Lucile Mercier
Schnitt
Julie Picouleau · Elif Uluengin
Darsteller
Lina El Arabi (Nedjma) · Esther Bernet-Rollande (Zina) · Kiyane Benamara (Leïla) · Mahia Zrouki (Samar) · Tasnim Jamlaoui (Carine)
Länge
80 Minuten
Kinostart
29.06.2023
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Drama | Liebesfilm
Externe Links
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Heimkino

Verleih DVD
Salzgeber (16:9, 1.85:1, DD5.1 frz.)
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In einem islamisch geprägten Pariser Vorort verlieben sich zwei Mädchen aus rivalisierenden Gruppen ineinander.

Diskussion

Beinahe vierzig Jahre nach dem bahnbrechenden Sozialdrama „Tee im Harem des Archimedes“ (1985), in dem Mehdi Charef von einer allen Missständen trotzenden Freundschaft in einem Pariser Vorort erzählte, haben sich Filme über das Leben in den Banlieues längst zu einem Subgenre des französischen Kinos entwickelt. Auch das Kinodebüt „Besties“ von Marion Desseigne Ravel spielt in einer solchen Wohnsiedlung vor den Toren der französischen Hauptstadt, und natürlich sind auch hier Ressentiments, Konflikte und Kriminalität allgegenwärtig.

Differenziert & unaufgeregt

Doch anders als einst in „Hass“ (1995) oder in jüngerer Zeit in „Die Wütenden – Les Misérables“ (2019) zieht es Desseigne Ravel nicht ins Epizentrum von Tristesse und Gewalt; die Filmemacherin richtet den Blick vielmehr auf den Alltag zwischen den Eskalationsausschlägen; sie zeichnet ein überraschend unaufgeregtes, differenziertes Bild vom Leben in den Banlieues und kommt deren Bewohnerinnen gerade dadurch besonders nah.

Dramaturgisch gelingt dies, indem sie eine Liebesgeschichte entwirft, die in den Medien ebenso treffend wie irreführend als moderne „Julia-und-Julia-Variante“ firmierte. Treffend, weil sich mit Nedjma und Zina zwei Mädchen aus zwei verfeindeten Cliquen ineinander verlieben. Es ist eine zärtlich-schüchterne Liebe, die im augenfälligen Kontrast zur lässig-coolen Swag-Attitüde steht, mit der Nedjma am Anfang des Films, die Kopfhörer in den Ohren, zu treibenden Beats durchs Viertel schlendert, ein Handschlag hier, ein Nicken dort, als wäre es „ihr“ Quartier. Die Kamera folgt ihr dabei wie einer Boxerin beim Einmarsch in den Ring.

Verheimlichen müssen Nedjma und Zina ihre Gefühle aber nicht nur, weil ihre rivalisierenden Freundinnengruppen sich um eine pinkgetünchte (!) Parkbank streiten, sondern auch, weil Homosexualität in ihrem islamisch-konservativen Umfeld zutiefst tabuisiert ist.

Kein Platz für Klischees

Es gehört zu den eher ungewöhnlichen Akzenten, die Desseigne Ravel ohne viel Aufhebens setzt, dass Nedjmas alleinerziehende Mutter für die religiöse Haltung der Jugendlichen wenig Verständnis aufbringt, da ihre Generation doch nach Frankreich gekommen sei, weil sie frei sein wollte. Auch dass die in gesellschaftskritischen Filmen oftmals als inkompetent oder latent rassistisch dargestellten Sozialarbeiter in „Besties“ zu den wenigen Verbündeten von Nedjma zählen und generell ein herzliches Verhältnis zu den Jugendlichen pflegen, entspricht der eher genreuntypischen, klischeefernen Herangehensweise des Films.

Die ist auch der Grund dafür, dass der Vergleich mit Shakespeare zumindest stilistisch in die Irre führt. Denn statt Pathos, Zuspitzung und Tragik wählt die französische Drehbuchautorin und Regisseurin stets die weniger spektakulären Zwischentöne, das weiter Schwelende.

Nachdem Nedjmas Clique die neu hinzugezogene Zina mit einem hinterrücks gefilmten und verfälschend geschnittenen Handyvideo in den sozialen Netzwerken als „Schlampe“ diskreditiert hat, droht die Situation vorübergehend außer Kontrolle zu geraten. Es kommt zu einem heftigen körperlichen Übergriff, doch letztlich pegelt sich die Feindschaft wieder ein, ohne dass sie überwunden wäre.

In dieser fragilen Balance bewegt sich der Film über sein Ende hinaus, das manchem als unbefriedigend oder desillusionierend erscheinen mag, während andere es als realistisch, vielleicht sogar hoffnungsvoll empfinden. Formal und erzählrhythmisch jedenfalls ist die finale Einstellung herausragend getimt, wie im Grunde der gesamte Film.

Ein Zelt auf dem Dach

Es beginnt mit einem kurzen Seitenblick Nedjmas durch die offene Wohnungstür, als Zina nebenan einzieht. Im Jugendtreff messen sich die beiden darin, wer schneller Musikstücke erkennt, die ein Sozialarbeiter auf dem Klavier vorspielt. Als Zina unvermittelt eine ganze Strophe mitsingt, zeigt die Kamera lange, wie Nedjma ihr dabei zusieht. Wenig später küssen sie sich im dunklen Hausflur vor ihren Wohnungen, was vor allem Nedjma eine ganze Weile überfordert. Später treffen sie sich heimlich auf dem Hausdach, bis sie irgendwann doch ertappt werden. Nedjma wird von ihrer Clique verstoßen, und sogar ihre kleine Schwester wendet sich von ihr ab. Die offenbar gar nicht so fies-brutalen Mädchen der Rivalinnen-Gruppe halten dagegen weiter zu Zina.

Während Nedjmas Freundinnen in den Sommerferien ohne sie ans Meer fahren, das auch fast vier Jahrzehnte nach „Tee im Harem des Archimedes“ ein Sehnsuchtsort bleibt, schlägt Nedjma für sich und Zina ein Zelt auf dem Dach auf.

Lina El Arabi und Esther Bernet-Rollande brillieren in den Hauptrollen mit einer ebenso zurückhaltenden wie eindringlichen Spielweise, die der authentischen Atmosphäre des Dramas gerecht wird. Während Bernet-Rollande als Zina gleichbleibend liebenswürdig auftritt und sich lediglich die Art, wie sie wahrgenommen wird, von naiv zu reif und selbstbewusst verändert, wird Nedjmas Selbstverständnis durch die Begegnung mit Zina grundlegend erschüttert. Die Kamerafrau Lucile Mercier versinnbildlicht diese Verunsicherung durch behutsam eingestreute Unschärfen, während Nedjmas Gang durch das Viertel sich vom Triumphmarsch in einen Spießrutenlauf verwandelt hat. Ein still-poetischer Moment in einem Film, der sich von der widersprüchlichen Wirklichkeit durchdringen lässt und darin doch immer wieder kleine romantische Nischen für eine verfemte Liebe findet.

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