Drama | Deutschland 2023 | 286 (6 Folgen) Minuten

Regie: Julian Pörksen

Einer jungen Frau gelingt nach Jahren die Flucht aus einem Bunker, gemeinsam mit einem Kind, das sie „Mama“ nennt, aber nicht mit ihr verwandt ist, und eine Reihe von scheinbar zwanghaften Verhaltensweisen an den Tag legt. Ein seit 13 Jahren ungelöster Kidnapping-Fall wird wieder aufgerollt und bringt Familie, Ermittler und Presse ins Spiel. Die Psychothriller-Miniserie nach einer Romanvorlage baut ihre Folgen auf Erinnerungen, unterschiedlichen Perspektiven und Indizien auf. Dabei lösen sie sich von Erzählmustern des klassischen Fernsehkrimis und verlassen sich auf Stimmungen und Atmosphäre sowie ein Figurenensemble, dessen Vielschichtigkeit und Unberechenbarkeit auch bei ruhigem Erzähltempo für große Spannung sorgt. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2023
Produktionsfirma
Constantin Television
Regie
Julian Pörksen · Isabel Kleefeld
Buch
Julian Pörksen · Isabel Kleefeld
Kamera
Alexander Fischerkoesen · Martin Langer
Musik
Gustavo Santaolalla · Juan Luqui
Schnitt
Renata Salazar Ivancan · Christoph Cepok
Darsteller
Kim Riedle (Lena) · Naila Schuberth (Hannah) · Sammy Schrein (Jonathan) · Hans Löw (Gerd Bühling) · Justus von Dohnanyi (Matthias Beck)
Länge
286 (6 Folgen) Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Drama | Krimi | Literaturverfilmung | Serie

Miniserien-Adaption von Romy Hausmanns gleichnamigem Roman um eine entführte Frau, die ihrem Peiniger entkommt, die inneren Fesseln aber nur schwer lösen kann.

Diskussion

Die gelungene Flucht müsste eigentlich ihre Erlösung sein, denn körperlich hat die junge Mutter Lena das Gefängnis ihres Entführers schon verlassen. Spät abends lief sie im Nachthemd durch den Wald, direkt vor ein Auto, und wacht im Krankenhaus nach einer Not-OP auf. Bei ihr: die zwölfjährige Hannah, unverletzt, die sie „Mama“ nennt, aber laut Gentest nicht mit ihr verwandt ist. Die Mutter hätte versucht, den Vater umzubringen, erzählt das Mädchen einer Krankenschwester. Das sei ein Versehen gewesen, die Mutter wie so oft ungeschickt.

Schon die ersten 15 Minuten der sechsteiligen Miniserie „Liebes Kind“ flirren regelrecht vor Ungereimtheiten und dunklen Geheimnissen. Nichts scheint zusammenzupassen, und doch stellt sich angesichts all der unheimlichen Puzzleteile das ungute Gefühl ein, dass es eine grauenhafte Erklärung für all das gibt. Isabel Kleefeld und Julian Pörksen haben den gleichnamigen Krimi-Bestseller von Romy Hausmann adaptiert und machen daraus ein düsteres Versteckspiel aus Erinnerungen, unterschiedlichen Perspektiven und Indizien.

Ein von Gewalt und Konditionierung errichtetes Gefängnis

Diese Lena nämlich ist nur körperlich frei, im Kopf bleibt sie im Gedankengefängnis, das ihr Entführer mithilfe von körperlicher Gewalt und Konditionierung errichtet hat. Immer wieder zeigen Rückblicke das Leben in einem zur merkwürdig altbackenen Wohnung umdekorierten Bunker, in dem sie mit den beiden Kindern Hannah und Jonathan lebt und immer erzittert, wenn der Vater der Kinder zu Besuch kommt. Dieser windet sich immer wieder aus dem Blickfeld der Kamera, bleibt nur eine schemenhafte und doch bedrohliche Gestalt. Seine samtige Stimme jedoch hat sich in Lenas Kopf festgesetzt wie ein Virus, das sie auch nach ihrer Flucht wie fremdbestimmt auf die Uhr schauen lässt, wenn ihr Abendbrot vor der festgelegten Essenszeit schon fertig auf dem Teller liegt. „Ich bin immer bei dir“, drängt sich die Stimme auch irgendwann ins Voice-Over der Serie.

Im Bunker agiert der Kidnapper als Übervater und „Big Brother“, der seine „Familie“ mit Kameras überwacht und ihr vorschreibt, wann sie zu schlafen, zu essen und auf die Toilette zu gehen hat. Die Kinder sind hier auf die Welt gekommen und kennen es nicht anders. Sie stellen sich brav in Reih und Glied auf, halten die frisch gewaschenen Hände hin, wenn der Vater zur Inspektion kommt. „Die Nägel müssen sauber sein und man darf nichts in der Hand verstecken, womit man sich selbst oder einen anderen verletzen kann. Das ist die Regel“, wiederholt Hannah auch nach der Befreiung immer wieder und zeigt unaufgefordert ihre Hände.

Zweifel an der Glaubwürdigkeit

Die Polizei hat schnell den Verdacht, dass Lena eine vor 13 Jahren entführte Frau sein könnte und zieht sowohl deren Familie als auch den damals zuständigen Ermittler Gerd Bühling hinzu. Der ist sichtlich mitgenommen von dem ungeklärten Fall. Dass Lenas Eltern damals seine Nachbarn waren, hat er lange verschwiegen. Seine neue Kollegin Aida Kurt wird hellhörig, die Presse belästigt Lenas Eltern, und selbst die Erzählung scheint alle Beteiligten zu beargwöhnen: Von Folge zu Folge wechselt sie die Perspektiven und sät so immer mehr Zweifel an der Glaubwürdigkeit ihrer Figuren. Wieso kann der Ermittler Lena nicht vergessen? Warum erkennen Lenas Eltern die eigene Tochter nicht wieder, Hannah jedoch den Großvater, den sie noch nie getroffen hat?

Kleefeld und Pörksen schaffen es, sich von den bewährten Erzählmustern des klassischen Sonntagabend-Fernsehkrimis zu lösen, verlassen sich vielmehr auf Stimmungen und Atmosphäre, um diesen Fall zu entfalten. Das funktioniert in „Liebes Kind“ so gut, weil das Ensemble im wahrsten Sinne des Wortes mitspielt – Justus von Dohnányi und Julika Jenkins führen als von Ungewissheit und Trauer zerfressene Eltern der entführten Lena ein eigenes Ehedrama auf, Hans Löw glänzt als von Schuld geplagter Ermittler und Kim Riedle changiert als Lena traumatisiert zwischen Stockholm-Syndrom und Konditionierung – sie alle sind ebenso verdächtig wie unvorhersehbar. Das befreit die Serie zwischenzeitlich davon, die Handlung vorantreiben zu müssen, um spannend zu bleiben – das langsame Erzähltempo macht aus dem Tappen im Dunkeln der vielen Perspektiven erst einen Psychothriller.

„Ich mache alles richtig“

Der gar nicht so heimliche Star dieser Serie ist die Kinderdarstellerin Naila Schuberth. Mit einer divenhaften Sonnenbrille gegen das ungewohnte Tageslicht steht sie als Hannah ihrem jüngeren Bruder Jonathan genauso unnahbar gegenüber wie den Ärztinnen und Polizisten. Schuberth spielt die Zwölfjährige als gleichermaßen unschuldige und berechnende Erfüllungsgehilfin des Vaters. Dessen Kontrollmechanismen entfalten mit Hannah in der Welt außerhalb des Bunkers ein unberechenbares und deshalb unkontrolliertes Paralleluniversum. Wer ein „Liebes Kind“ ist, also die Regeln befolgt und sich konform einfügt, hat nichts zu befürchten, und wer es wie Hannah und Jonathan nicht anders kennt, wird sich kaum wehren. „Ich hab’ mir alles genau gemerkt. Ich mache alles richtig“, sagt Hannah sich immer wieder vor. Ihr Mantra lässt sie jedoch plötzlich fremdbestimmt und roboterhaft wirken. So abstrakt dieser Kidnapping-Grusel im Bunker-Setting scheint, so lebensnah wird er plötzlich und fragt danach, ob und wann häusliche Gewalt erkennbar wird.

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