Der Junge und der Reiher

Animation | Japan 2023 | 124 Minuten

Regie: Hayao Miyazaki

Nachdem seine Mutter während des Pazifikkrieges in Tokio bei einem Luftangriff ums Leben gekommen ist, zieht ein 12-jähriger Junge mit seinem Vater und seiner Stiefmutter in die Provinz. Ein sprechender Reiher führt ihn dort in eine magische Parallelwelt, in der er unter anderem auf die jüngere Gestalt seiner Mutter und allerlei sonderbare Wesen trifft. Das einfühlsame, hintergründige und teilweise auch düstere Anime widmet sich ganz der gequälten Seelenwelt eines vom Verlust gezeichneten Jungen. Mit beeindruckenden handgezeichneten Animationen und grenzenloser Fabulierlust entwirft der Film ein faszinierend rätselhaftes Reich, in dem der Protagonist mit seiner eigenen Wirkungsmacht konfrontiert wird. - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
KIMITACHI WA DÔ IKIRU KA
Produktionsland
Japan
Produktionsjahr
2023
Produktionsfirma
Studio Ghibli/Toho Company
Regie
Hayao Miyazaki
Buch
Hayao Miyazaki
Kamera
Atsushi Okui
Musik
Joe Hisaishi
Schnitt
Akane Shiraishi · Rie Matsubara · Takeshi Seyama
Länge
124 Minuten
Kinostart
04.01.2024
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Animation | Anime | Coming-of-Age-Film | Drama | Fantasy
Externe Links
IMDb | TMDB

Bildgewaltiges Anime um einen Jungen, der in der japanischen Provinz mit der Trauer um seine Mutter ringt, die in Tokio bei einem Luftangriff ums Leben kam.

Diskussion

Während des Pazifikkrieges fällt die Mutter des 12-jährigen Mahito in Tokio einem Luftangriff zum Opfer. Der Junge soll daraufhin in der Provinz ein neues Leben beginnen. Doch die Erinnerung daran, wie er sich verzweifelt durch die brennende Stadt kämpft, sucht ihn in seinen Träumen immer wieder heim. Das Anime „Der Junge und der Reiher“ ist an der Schwelle zwischen einem hartnäckigen Trauma und einer ungewissen Zukunft angesiedelt, die zugleich Herausforderung und Chance ist. Verkörpert wird dieser Übergang von Natsuko, der neuen Frau von Mahitos Vater, bei der es sich um die jüngere Schwester der Verstorbenen handelt. Wegen ihrer Ähnlichkeit mit der toten Mutter beobachtet der Junge sie mit einer Mischung aus Befremden und Faszination.

Realismus plus Karikatur

Abgesehen davon, dass Mahitos Vater eine Munitionsfabrik betreibt, ist der Krieg in der ländlichen Idylle weitgehend abwesend. Regisseur Hayao Miyazaki, Mitbegründer der populären Animationsschmiede Studio Ghibli, erforscht die Umgebung mit einem sinnlichen Realismus, der gekonnt zwischen Lebensnähe und Stilisierung balanciert. Die Animationen sind handgezeichnet und wurden für einen besseren räumlichen Eindruck mit 3D-Computergrafiken erweitert. Besonders werden sie durch ihre Unvollkommenheit. Die Gräser und Büsche, die in saftigem Grün sprießen, sind nicht bis ins kleinste Detail durchgezeichnet, sondern bleiben impressionistisch verwischt, wodurch eine flirrende Atmosphäre entsteht. Da der über 80-jährige Miyazaki altersbedingt nicht mehr jedes Einzelbild überwachen konnte, wurde er bei den Feinheiten von Takeshi Honda unterstützt, der fürs Figurendesign verantwortlich ist.

Besonders am Anfang kombiniert „Der Junge und der Reiher“ immer wieder präzise Alltagsbeobachtungen mit Karikaturen. Zu beobachten ist das etwa bei den alten Frauen, die in Mahitos neuem Zuhause als Bedienstete arbeiten. Mit gebückter Körperhaltung und übergroßen Gesichtsmerkmalen wuseln sie aufgeregt um den Jungen herum oder versuchen, sich listig eine Zigarette zu ergaunern.

Die Ästhetik des Films ist häufig von einem kindlich staunenden Blick geprägt, der das, was er sieht, nie ganz greifen kann. Das traditionelle japanische Holzhaus wirkt mit seinen langen Gängen und knarzenden Dielen geradezu gespenstisch. Die Neugier und Behutsamkeit, mit der Mahito den Schauplatz erforscht, findet ihre Entsprechung im schönen Soundtrack von Joe Hisaishi. Zart, fließend und melancholisch tastet der sich mit einfachen Klaviermelodien vor, die allmählich von einem kleinen Kammerensemble ergänzt werden. Bilder und Musik wirken dabei stets durchlässig, was für den ganzen Film bezeichnend ist.

Im Reich des Fantastischen

Denn anders, als es zunächst scheint, öffnet sich die Geschichte bald hemmungslos dem Fantastischen. Zunächst ist es ein dubioser Reiher, der Mahito mit krächzender Stimme zu seiner toten Mutter locken will. Kurz darauf verschwindet die schwangere Natsuko in einem seltsamen Turm, der sich auf dem Anwesen befindet. Durch ihn gelangt Mahito in eine surreal morbide Parallelwelt, in der die Handlung freier und unberechenbarer wird.

Mit dem seltsamen Reiher kündigt sich bereits an, dass hier alles nach eigenen und nicht unbedingt klaren Regeln läuft. Der Vogel erweist sich als bloßes Kostüm für einen miesepetrigen Zwerg mit Halbglatze und grotesk angeschwollener Nase. Seine genaue Natur bleibt ebenso nebulös wie seine Absichten. Mal ist er Mahitos Gegenspieler, dann wieder sein Gehilfe.

In dem zauberhaften Reich trifft Mahito außerdem auf die jüngere Version einer Bediensteten sowie seine Mutter als Mädchen mit magischen Kräften. Auch allerlei sonderbare Wesen wohnen hier. Etwa die niedlich amorphen Warawaras, die in den Himmel steigen, um als Menschenbabys geboren zu werden. Oder die übergroßen Wellensittiche, die zwar harmlos doof dreinschauen, sich aber von Menschenfleisch ernähren. Im Vergleich zu vielen früheren Studio-Ghibli-Filmen ist der Erzählton hier deutlich düsterer und hintergründiger.

Zu den Stärken von „Der Junge und der Reiher“ zählt insbesondere seine grenzenlose Fabulierlust. So ist zwar klar, dass das fantastische Reich irgendwie mit der Wirklichkeit verbunden ist, jedoch nicht, auf welche Weise. Weder ist es ein Abbild der Realität mit sagenhaften Figuren noch eine reine Allegorie. Die Logik wirkt eher irrational wie in einem Traum. Vor allem scheint hier Mahitos gequältes und turbulentes Seelenleben in episch märchenhafte Dimensionen auszuarten. Seine Verlorenheit, die Überforderung mit dem Tod und die beängstigende Ungewissheit vor der Zukunft spielen dabei eine besondere Rolle.

Die Macht des Einzelnen

Trotz seines zauberhaften Überschwangs handelt der Film letztlich von der Wirkmacht des Einzelnen. Der japanische Originaltitel des Films zitiert den Jugendroman „How Do You Live?“ (1937) von Genzaburo Yoshino. Zwar erzählen Buch und Film unterschiedliche Geschichten, doch beide handeln von einem Jungen, der während des Krieges mit einem persönlichen Verlust und der Widersprüchlichkeit der Welt konfrontiert wird. Mahitos Reise ist zwar von einem aufkommenden Verantwortungsbewusstsein und inneren Wachstum geprägt, ihr Ziel bleibt jedoch unbestimmt. Auf die im Originaltitel formulierte Frage antwortet Miyazaki nicht eindeutig, sondern mit einer offenen und tiefgehenden Reflexion.

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