Eher fliegen hier UFOs

Drama | Deutschland 2023 | 89 Minuten

Regie: Gina Wenzel

Eine Frau aus einem Dorf am Niederrhein, das der Braunkohleförderung weichen soll, erlebt ab 2018 die letzten Jahre in ihrem Heimatort. Die Risse innerhalb der Dorfgemeinschaft angesichts der Umsiedlung und der Präsenz von Umweltaktivisten greifen zusehends auch auf die Bäckerei der Frau und ihre Familie über. Ein ruhig und sensibel erzähltes Drama, dessen authentischer Zeichnung von Figuren und Milieu anzumerken ist, dass dem Film mehrere Jahre Recherche zugrunde liegen. Die im Kern melancholische Geschichte wird sanft durch Dialoghumor und skurrile Szenen aufgelockert. - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2023
Produktionsfirma
Sutor Kolonko/WDR
Regie
Gina Wenzel · Ingo Haeb
Buch
Ingo Haeb
Kamera
Olaf Hirschberg
Musik
Jakob Ilja
Schnitt
Nicole Kortlüke · Nils Radtke
Darsteller
Johanna Gastdorf (Marita) · Markus John (Klaus) · Petra Nadolny (Irene) · Merle Wasmuth (Natalie) · Jürgen Rißmann (Stefan)
Länge
89 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Drama
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Sensibles Drama um eine Bäckerfamilie aus einem Dorf am Niederrhein, das der Braunkohleförderung weichen soll, und die immer deutlicheren Risse zwischen den Generationen.

Diskussion

Totalen zeigen den Abbruch von Erdmassen am vorderen Bildrand und Windräder am Horizont. Etwas stimmt nicht mit diesem Ort, zwischen Ruheidylle und drohendem Verschwinden. Am Anfang überwiegt noch Hoffnung. Bäckerfamilie Baumanns übt sich 2018 in Gelassenheit. Marita Baumanns (Johanna Gastdorf) führt seit dem Tod ihres Mannes gemeinsam mit ihrem Schwager Klaus (Markus John), dessen Frau Irene (Petra Nadolny) und deren Tochter Natalie (Merle Wasmuth) die familieneigene Bäckerei fort. Ihre Nachbarn verkaufen zwar schon ihre Häuser und ziehen in das neu geschaffene Dorf, aber solange es noch Kunden gibt, sehen sie keinen Grund, um wegen der Braunkohleförderung ihr Heim in Niersdorf zu verlassen.

Schließlich reisen auch immer wieder Aktivisten in die überschaubare Provinz am Niederrhein an. Die Veganer unter ihnen fassen die Bäckereiprodukte zwar wegen der verwendeten Butter und Schweineschmalz nicht an, andere wollen vor allem das Klima retten und besetzen die leerstehenden Häuser, was den letzten verbliebenen Bewohnern gar nicht passt. Trotzdem feiert man Karneval und singt „En unserem Veedel“, auch diejenigen, die schon umgezogen sind.

Drama einer staatlich verordneten Entwurzelung

Irgendwann wird der Immerather Dom von Baggern dem Boden gleichgemacht, überall wächst das Unkraut, und auch der Friedhof soll umgebettet werden. Die Baumanns müssen eine Entscheidung treffen, und die kostet sie mehr Kraft, als ihre Familienbande vertragen können. „Eher fliegen hier UFOs“ von Gina Wenzel und Ingo Haeb lässt sich viel Zeit, um das Drama einer staatlich verordneten Entwurzelung in allen Facetten aufzufächern. Über den Zeitraum eines halben Jahrzehnts beobachtet der Film im ruhigen Tonfall die Spannungen, die wegen der Unplanbarkeit der Zukunft die betroffenen Existenzen über drei Generationen zerreißen. Erzählt wird das Geschehen aus der Perspektive von Marita. Aus dem Off teilt sie ihre Gedanken mit, spricht mit ihrem verstorbenen Mann und unternimmt lange Spaziergänge in der Gegend. Was für sie Heimat ist, sehen die Aktivisten als inakzeptablen Nazi-Begriff, den man nicht verwenden sollte.

Die sehr gut getroffene rheinische Mundart und der dort typische Humor färben die melancholische Geschichte in Dialogen und skurrilen Szenen überaus authentisch ein. Das verdankt sich auch der sensiblen Regie, die sich nie in den Vordergrund schiebt. Und Johanna Gastdorf, die ihre Marita Baumanns exzellent als stoische Optimistin spielt. Wenn sie durch das Neubaugebiet fährt, das auf unbepflanztem Grund aus Hausquadern zusammengewürfelt wurde, vermisst sie Läden, eine Kneipe, ein Café. Niersdorf war zwar nicht schön, aber doch natürlich über Jahrzehnte gewachsen. Die Kamera fängt beide Dorfteile immer wieder ein und man versteht, warum so viele der Bewohner lieber in die helleren und breiteren Straßenzüge zogen.

Wo sind plötzlich die Bagger abgeblieben?

2020 schließen die Baumanns ihre Bäckerei und ziehen wie die anderen in ein Haus im neuen Ortsteil. Marita folgt ihnen. Die Oma stirbt plötzlich beim Packen. Die nächste Generation kündigt sich an, als Klaus’ Tochter Natalie schwanger wird. Sie lebt längst in Köln. Die eine oder andere sucht sich einen neuen Job, wird erfinderisch und hat Erfolg. Eigentlich geht es aufwärts. Dann fällt der Karneval wegen Corona aus. Von nun an herrscht das Regime von Maske, Abstand und Ansteckungsangst. Man geht sich aus dem Weg, nur wo sind plötzlich die Bagger abgeblieben?

Marita ist fassungslos, als sie erfährt, dass der Ausstieg aus der Braunkohle früher kommt als geplant. Das alte Dorf bleibt erhalten, und unterwegs in der leeren Hauptstraße sieht sie im Frühjahr 2022 bereits eine ukrainische Flüchtlingsfamilie einziehen. Das ebenfalls von Ingo Haeb verfasste Drehbuch wartet im Finale mit dieser absurden Drehung voller aktueller Bezüge auf, wie überhaupt die sanft eingestreuten tragikomischen Momente in dieser sorgfältig vor Ort recherchierten TV-Rarität die Zumutungen erträglicher machen, die das emotionale Gleichgewicht der Baumanns auf die Probe gestellt haben. Die Erde dreht sich weiter. Et kütt wie et kütt.

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