Night To Be Gone
Drama | Deutschland 2023 | 89 Minuten
Regie: Loren Marsh
Filmdaten
- Produktionsland
- Deutschland
- Produktionsjahr
- 2023
- Produktionsfirma
- Loren Marsh Prod.
- Regie
- Loren Marsh
- Buch
- Loren Marsh
- Kamera
- Vlad Margulis · Florian Wurzer
- Musik
- Paul Brody
- Schnitt
- Federico Neri
- Darsteller
- Omer Cisse (Omer) · Sylvaine Faligant (Carine) · Yotam Ishay (Sultan) · Daniel Arthur Fischer (Bavarian) · Christian Harting (Jürgen)
- Länge
- 89 Minuten
- Kinostart
- 11.01.2024
- Pädagogische Empfehlung
- - Ab 16.
- Genre
- Drama
- Externe Links
- IMDb | JustWatch
Stimmungsvolles Schwarz-weiß-Drama um zwei Billardspieler, die sich mit Tricks und wechselnden Geschichten in den Kneipen von Berlin behaupten, bis sie an einen vermeintlich unbesiegbaren Gegner geraten.
Menschen, die auf Billardtische starren. Lange nicht mehr im Kino zu sehen, aber durchaus noch in der Lage, eine gewisse Faszination zu entwickeln. Gerade und insbesondere, weil der Filmemacher Loren David Marsh, offenbar (auch) dem überschaubaren Budget geschuldet, sich dem Genre des Spieler-Films gewissermaßen strukturalistisch-analytisch nähert und auf schmückendes Beiwerk zugunsten einer Beschränkung auf die Essenz verzichtet.
Spieler-Filme sind immer auch Bildungsromane. Der Protagonist ist mit einem außergewöhnlichen Talent ausgestattet, das aber zur Selbstüberschätzung verführt. Auf den Aufstieg folgt ein tiefer Fall, doch nach einer Phase der Selbstzweifel und der Selbsterkenntnis führt ein Comeback aus der Krise, das schließlich in ein erfolgreiches Duell mit einem für übermächtig erachteten Gegner führt. Oder, in der dunklen Variante des Genres: in den Tod. Im Falle des Billard-Films weiß Marsh um die Bedeutung der großen Vorbilder: Robert Rossens „Haie der Großstadt“ und Martin Scorseses „Die Farbe des Geldes“, die wiederum ihrerseits selbst einander Vorbild und Variation beziehungsweise Fortschreibung sind.
Nachts an Nicht-Orten
Doch Marsh setzt nicht auf Budenzauber à la Scorsese, sondern wählt die Reduktion, gehalten in atmosphärischer Schwarz-weiß-Fotografie, die mehr als einmal an die Cover alter Jazz-Alben der 1940er-, 1950er-Jahre erinnert. Die Noir-Handlung von „Night to be gone“ spielt vornehmlich nachts an Nicht-Orten: billigen Hotelzimmern, Hotel-Lobbys, Billard-Kneipen, Hinterhöfen, kaum belebten Straßen. Zwar hält sich „Night to be gone“ einerseits an die Genre-Konventionen von Aufstieg, Fall, Comeback und Triumph beziehungsweise Katastrophe, andererseits aber konzentriert sich der Film auf ein Zentralmotiv des Billard-Films, nämlich die Strategie des „Hustle“, der Täuschung, die den Gegner durch gespielte Schwäche zum Duell „verführt“.
Allerdings geschieht dies in einer Konstellation, in der auch die Beziehung der beiden Protagonisten des Films von dieser „Déformation professionelle“ kontaminiert ist. Das Geschäftsmodell am Billardtisch, so sieht es zumindest „Night to be gone“, besteht aus einer Mischung aus Konzentration und Improvisation, aus technischem Können und gewitztem Storytelling. Wenn der wohl aus Mali stammende Omer (Omer Cisse) und Carine (Sylvaine Faligant) aus Marseille in den Randbezirken Berlins auftauchen, agieren sie als Team, das auf unterschiedliche Konstellationen am Billardtisch flexibel zu reagieren versteht. Es gilt, Diskursräume zu etablieren (Flirt, Begehren, Ressentiments, Rassismus, Mitleid, Solidarität), die einen potenziellen Gegner ins Spiel locken, weil er sich überlegen glaubt: „I told him my story!“
Wenn das Storytelling sich als Fiktion erweist
Der Film, der als Stationendrama angelegt ist, zeigt, was es dabei alles zu beachten gilt, bevor das eigentliche Spiel beginnt. Und dass Fehleinschätzungen äußerst schmerzhafte Folgen haben können, wenn das Storytelling sich im Laufe des Spiels als Fiktion erweist. Omer und Carine sind angetreten, eine gewisse Summe zu generieren, um den ominösen „Sultan“ herauszufordern, bei dem es dann um das große Geld geht. Es ist ungemein spannend zu erleben, wie der mephistophelische Profi „Sultan“ (Yotam Ishay) die Schwachstellen im Team Omer/Carine erkennt und, indem er rhetorisch brandstiftet, die erste Begegnung zu seinen Gunsten entscheidet.
Es zeigt sich, dass Omer und Carine unter ganz unterschiedlichen Voraussetzungen sich als Team erfunden haben, die zunächst einmal zu klären gewesen wären. Im Laufe des Films werden ein paar Einzelheiten dazu nachgereicht, allerdings unter dem konstitutiven Vorbehalt, dass Sultan bereits einige Legenden vorgelegt hat. Stammt also Carine aus einem kleinen Dorf aus Südfrankreich, von wo sie nach Marseille aufbrach, um sich erst einem Taschendieb anzuschließen und dann in die Drogensucht abzudriften? Carine träumt davon, mit etwas Grundkapital eine Bar in Nizza zu eröffnen. Wurde Omers Familie Opfer der politischen Verhältnisse in seiner Heimat, weshalb die Familie jetzt auf seine finanzielle Unterstützung angewiesen ist? Und was will Omer von Carine? Hat er einen Plan für „danach“? Dem erfolgreichen Teambuilding stehen Carines Beharren auf Unabhängigkeit und Omers Macho-Gehabe und seine Eifersucht entgegen, zumal ein grundsätzliches Misstrauen in die Beziehung eingesickert ist.
Die Exit-Strategie bei der Revanche
Natürlich kommt es zu einer Revanche mit „Sultan“. Und weil „Sultan“ prinzipiell nach eigenen „Sultan“-Regeln spielt, die ein Ende des Spiels an bestimmte Bedingungen knüpft, braucht das Paar eine Exit-Strategie. Omer hat da auch schon einen Plan, in dem Carine die Hauptrolle spielen soll. Die Crux: „Vertraue mir, dann vertraue ich dir!“.
Stimmungsvoll auf Noir fotografiert von Vlad Margulis und Florian Wurzer, die Spielszenen am Tisch dynamisch montiert von Federico Neri und mit einem kalten elektronischen Score von Paul Brody unterfüttert, gelingt Loren David Marsh eine feine, beobachtende Studie über die Dialektik von Storytelling und Misstrauen mit einigen blinden Flecken, die es verkraftet, dass die Gegenspieler deutlich eindrücklicher spielen als die Hauptdarsteller. Was damit zu tun haben könnte, dass der skizzenhafte Entwurf der Figuren Omer und Carine dramaturgisch gewünscht und notwendig ist.