Action | Deutschland 2024 | 88 Minuten

Regie: Oliver Kienle

Kurz vor einem entscheidenden Karrierekampf sieht sich ein junger MMA-Fighter gezwungen, sich innerhalb von 60 Minuten zum 7. Geburtstag seiner Tochter durch Berlin zu boxen. Während die Exfreundin mit dem Entzug des Sorgerechts droht, sind dem jungen Vater allerhand Kleingangster und die Wettmafia auf den Fersen. Mit einer reichlich abstrusen Prämisse spult der Actionfilm seine Jagd durch Berlin nach Schema F ab, ohne eigene Akzente zu setzen oder aus den angeschnittenen Problemen väterlicher Unzulänglichkeit und kommunikativer Dauererreichbarkeit etwas zu machen. Die Figuren verharren im Guten wie Bösen in den Grenzen ihrer Klischees. - Ab 16.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2024
Produktionsfirma
Nocturna Prod./W&B Television
Regie
Oliver Kienle
Buch
Philip Koch · Oliver Kienle
Kamera
Markus Nestroy
Musik
Michael Kadelbach
Schnitt
Knut Hake · Maria Gans
Darsteller
Emilio Sakraya (Octavio Bergmann) · Dennis Mojen (Paul Lehmann) · Marie Mouroum (Cosima) · Paul Wollin (Chino) · Florian Schmidtke (Winkler)
Länge
88 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Action | Drama | Sportfilm
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Einem MMA-Kämpfer bleibt nur eine Stunde, um es quer durch Berlin zur Geburtstagsfeier seiner Tochter zu schaffen, was wegen diverser Gangster zum Prügel-Spießrutenlauf gerät.

Diskussion

Deutsche Genre-Stoffe haben es nicht leicht. Vor allem wenn es sich um Vertreter der härteren Gangart handelt: Kampfsport- und Prügel-Action wie in den Filmen mit Jackie Chan oder Bruce Lee, die sich meist in urbanen Milieus schlagkräftig gegen wahre Gangster-Kaskaden zur Wehr setzten, lassen sich hierzulande an einer Hand, pardon an einer Faust abzählen. Die Netflix-Produktion „60 Minuten“ macht ihren Titel dabei zum Programm: Genau eine Stunde bleibt dem jungen „Mixed Martial Arts“-Kämpfer Octavio, kurz Octa, um einen anstehenden Karrierekampf sausen zu lassen und sich durch Berlin bis zur Geburtstagsfeier seiner geliebten Tochter zu prügeln, die sieben Jahre alt wird. Es gilt das zu erhalten, wofür man besser nicht die Fäuste einsetzt: Das Sorgerecht. Mit dessen Entzug droht Exfreundin Mina, sollte Octa seine Tochter ein weiteres Mal enttäuschen. Dumm nur, dass mittlerweile nicht nur Octas Ex die Faxen dicke hat, sondern auch all die Menschen, die auf Octas Sieg in dem abgeblasenen Kampf gewettet haben. Die Einsätze sind hoch, dementsprechend groß ist das Interesse der Kleinkriminellen und der großen Wettmafia, Octa in den Ring zurückzubefördern – notfalls (und wenig sinnstiftend) auch mit Gewalt.

Kätzchen und Gewalttäter

Nicht nur die zunehmend interferierenden Gangster und Polizisten erinnern hier an den Genre-Sprenger „Victoria“ von Sebastian Schipper. Die verdichtete Mixtur aus Zeitdruck und Gewalt in Schippers wahnsinnigem, (vermeintlich) schnittlosen One-Shot-Dreh entwickelten einen Sog der Echtzeit, in der Berlin und sein Lebensgefühl zum Leben erwachten. Lebendig wirken in „60 Minuten“ hingegen nur die perfekt durchchoreografierten Kampfszenen. Die Schritte dazwischen folgen ziemlich unorganisch dem Schema F: Octa durchquert Berlin von Wedding nach Neukölln per Taxi, Polizeiwagen, U-Bahn, Roller und zu Fuß. Auf dem Weg muss er noch eine Glückwunschkarte schreiben, eine Torte besorgen sowie ein Kätzchen namens „Zwiebel“ als Geschenk aus dem Tierheim abholen, während ihm alle naselang eine Handvoll Gewalttäter vor die Fäuste läuft.

Augenzwinkernd fährt Regisseur Oliver Kienle (Drehbuchautor von „Bad Banks“) immerhin noch allerhand Klischees bezüglich seiner Kulisse auf: Prenzlberg-Eltern hängen in kitschigen Kinder-Cafés ab, Partygänger pumpen sich in düsteren Techno-Gewölben mit Drogen voll, die Mitarbeiter im hippen Törtchen-Café sprechen nur Englisch und die Berliner Polizei kümmert sich lieber um den Tatbestand der Beamtenbeleidigung als um das Anfahren eines Passanten. Letztlich hängen die verschiedenen Facetten Berlins ebenso dem Klischee an wie die aufgefahrenen Gangster-Figuren.

Eigene Akzente setzt man so nicht

Selbstredend, dass Octas Schläger-Verhalten und Schimpfkanonaden diametral entgegengesetzt zu der verantwortungsvollen Vaterfigur sind, die sich Mina für ihre kleine Tochter wünschen mag. „Halt die Fresse“ oder „Verpiss dich“ gehören zu Octas Standardrepertoire, während seine Gegner weitaus diskriminierenderes Vokabular auffahren. Etwas mehr emotionale Zwischentöne würde aber selbst der hartgesottenste Schlägertyp vertragen, egal wie sehr die treibenden HipHop-Klänge den sozialen Underdog-Status proklamieren. Und so bleiben auch die Gefühle der Unzulänglichkeit, die Octa von seinem eigenen Vater in einem ruhigen Moment gespiegelt werden, wortwörtlich auf der Strecke.

Aufsehenerregende Szenen wie das Rammen eines Polizeiautos durch einen Hummer-SUV oder die Schlägerei in der Kampfschule sind klare Kopien amerikanischer Vorbilder. Eigene Akzente setzt man so nicht. Auch die im Titel proklamierte Erzählzeit funktioniert nicht so, dass sie sich mit der realen Zeit einfach übereinanderlegen ließe. Ziemlich genau 60 der 89 Filmminuten werden Octas atemloser Hast durch Berlin gewidmet. Wobei 60 Minuten zusammengeschnittener Film mit all den zurückgelegten Distanzen und Interferenzen erzählerisch natürlich viel länger anmuten als 60 Minuten Realität. „Octa rennt“ statt „Lola rennt“ also, nur dass Emilio Sakrayas Figur, anders als in Tom Tykwers Film, keine drei Durchläufe derselben Drucksituation inklusive Kuhhandel mit Zeit und Schicksal gegönnt sind – kein „Reset“, um sein Glück erneut zu versuchen.

Das Narrativ folgt eher einer auf längere Zeiträume angelegten Videospiel-Manier, in der der Protagonist an einen Gegner nach dem nächsten gerät. Unterstützt wird dieser Eindruck durch Octas Dauer-Kommunikation mittels EarPods und Split-Screens, wenn die Anrufe und Sprachnachrichten von Tochter, Ex, Eltern, Manager und Sparring-Partnerin eintrudeln. Die Smartwatch überwacht unterdessen jeden seiner Schritte. Das war beim anfänglichen Telefonanruf, der in „Lola rennt“ vor 25 Jahren den Stein immer wieder ins Rollen brachte, noch anders. Octavio macht sich selber Druck, indem er ständig empfangsbereit zum Spielball der verschiedensten Interessen wird. Letztlich ist diese Dauererreichbarkeit das Dilemma des modernen Menschen – bis der junge Mann kurz vorm Ziel einfach mal abschaltet. Da ist allerdings auch der Film vorbei – und die Gelegenheit zur medienkritischen Botschaft in der kalten Berliner Abendluft verpufft.

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