My New Friends

Drama | Frankreich 2024 | 85 Minuten

Regie: André Téchiné

Eine verwitwete Polizistin freundet sich in einer südfranzösischen Stadt mit einer jungen Familie von Gegenüber an, erfährt dann aber, dass der Mann ein radikaler Polizeigegner ist, der unter Hausarrest steht. Mit lebensnahen Figuren erzählt das Drama, wie das menschliche Bedürfnis nach Nähe ideologische Gräben überwinden kann, auch wenn es vor der Bürokratie eines Rechtsstaats kapitulieren muss. Ein schlichter, aber souverän inszenierter und gespielter Film über Einsamkeit, leidvolle Erfahrungen und die heilende Kraft zwischenmenschlicher Zuneigung. - Ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
LES GENS D'Á CÔTÉ
Produktionsland
Frankreich
Produktionsjahr
2024
Produktionsfirma
Les Films du Worso
Regie
André Téchiné
Buch
André Téchiné · Régis de Martrin-Donos
Musik
Olivier Marguerit
Darsteller
Isabelle Huppert (Lucie) · Nahuel Pérez Biscayart (Yann) · Hafsia Herzi · Stéphane Rideau · Moustapha Mbengue
Länge
85 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Ab 14.
Genre
Drama
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IMDb

Eine ältere französische Polizistin freundet sich mit ihren neuen Nachbarn an, bis sie herausfindet, dass der Mann ein militanter Polizistenhasser ist.

Diskussion

Die Polizistin Lucie (Isabelle Huppert) hat ein gespaltenes Verhältnis zu ihrem Beruf. Erst vor kurzem hat sich ihr Mann, der selbst Polizist war, das Leben genommen. Die vor der Pensionierung stehende Beamtin macht dafür den Druck verantwortlich, dem er innerhalb und außerhalb des Reviers ausgesetzt war. „My New Friends“ beginnt damit, dass Lucie in die Rolle der Angeklagten gedrängt wird. Vor ihrem Chef muss sie sich wegen ihrer angeblich feindseligen Einstellung gegenüber der Polizei und ihrer labilen Psyche rechtfertigen. Noch bevor der französische Regisseur André Téchiné die Protagonistin in einen moralischen Zwiespalt schlittern lässt, ist sie innerlich bereits zerrissen.

Lucie ist keine, die einfach nur stur Regeln befolgt. Isabelle Huppert spielt diese hemdsärmelige Rolle mit zerzausten Haaren und schlabbrigen Klamotten jenseits ihres glamourösen Images. Ebenso wenig entspricht die Polizistin dem Bild einer angepassten Großmutter. Immer wieder jauchzt Lucie exaltiert hoch, etwa wenn sie verstohlen an einem Joint zieht. So als schlummere immer noch eine rebellische Teenagerin in ihr, die manchmal raus will.

Präzise beobachtete Alltagsmomente

Manchmal ist Lucie auch einsam und niedergeschlagen. Während sie die Familie ihres verstorbenen Mannes meidet, interessiert sie sich umso mehr für die junge Familie, die gerade gegenüber eingezogen ist. Julia (Hafsi Herzi), der Künstler Yann (Nahuel Pérez Biscayart) sowie ihre gemeinsame Tochter scheinen sich ähnlich unverstanden und überfordert zu fühlen, wodurch eine verbindende Vertrautheit zwischen den Nachbarn entsteht. Doch dann erfährt Lucie, dass Yann ein radikaler Polizeigegner ist, der wegen eines Gewaltverbrechens unter Hausarrest steht.

Wie in „Abschied von der Nacht“ (2018) erzählt Téchiné auch hier von einer generationenübergreifenden Beziehung, an der sich ein weltanschaulicher Konflikt entzündet. Auf den ersten Blick wirken der schmucklose Look, die schnörkellose Erzählung und die auf dem Reißbrett entworfene sozialpolitische Problematik wenig ambitioniert. „My New Friends“ brilliert dafür stärker in den Feinheiten. Die Geschichte wird nicht über das Thema, sondern von den lebensnah gezeichneten Figuren her aufgezogen und beweist ein großes Gespür für präzis beobachtete Alltagsmomente; inszenatorisch ist der Film altmeisterlich entspannt.

Heilende Kraft gegen Vorurteile

Ideologie gründet in „My New Friends“ in einer schmerzhaften persönlichen Erfahrung. Yann wurde einst bei einer Demonstration von Polizisten niedergeprügelt und versteigt sich seither in seiner Wut gegen das Establishment. Er ist nicht nur in seinem Haus eingesperrt, sondern auch in seiner starren Weltsicht, die sich nur aufrechterhalten lässt, solange er sein Feindbild entmenschlicht. Sobald es plötzlich in Form seiner hilfsbereiten Nachbarin leibhaftig vor ihm steht, bleibt ihm nichts anderes als die Flucht.

Zwischenmenschliche Zuneigung begreift „My New Friends“ als heilende Kraft gegen Vorurteile und Pauschalisierungen. Unabhängig von ihrer politischen Position leiden alle Figuren darunter, nicht gehört zu werden. Während sich die Polizisten über unfaire Arbeitsbedingungen und ihren schlechten Ruf beklagen, wird die flammend politische Rede bei Yanns Ausstellungseröffnung schnell von der peinlich berührten Galeristin unterbunden.

Mit fortschreitender Handlung rückt die zunächst aufkeimende Frauenfreundschaft zwischen Lucie und Julia in den Hintergrund. Das ist bedauerlich, weil Hafsia Herzi ihre zerbrechlich zweifelnde Figur so einnehmend verkörpert, dass man ihr gerne länger gefolgt wäre. Dramaturgisch macht es jedoch Sinn, stattdessen dem pubertär aufbrausenden Yann mehr Raum zu geben Zum Bindeglied zwischen ihm und seiner Nachbarin wird dabei der meist nur verallgemeinert als „Afrika“ beschriebene Herkunftsort von Yann. Für Lucie wie Yann symbolisiert der afrikanische Kontinent einen romantischen Sehnsuchtsort. Für Lucie, weil sie damit Erinnerungen an eine lange zurückliebende Unbekümmertheit verbindet, und für Yann, weil sich darin sein Fernweh ausdrückt.

Die Distanz des Rechtsstaates

Es mag etwas naiv versöhnlich sein, wenn Lucie dem Nachbarn ein „afrikanisches“ Lied vorspielt, worauf sich sein Freiheitsdrang in einem ekstatischen Tanz entlädt. Innerhalb des Films wirkt es schlüssig. Denn Musik ruft hier vor allem ein tröstendes Gefühl für die Alleingelassenen hervor. So wie jene Momente, in denen Lucies Mann wie selbstverständlich als Geist erscheint, um ihr etwas auf dem Klavier vorzuspielen.

Isoliert sind in „My New Friends“ nicht nur die Figuren, sondern auch die Schauplätze in einer südfranzösischen Kleinstadt, die die im Hintergrund thronenden Pyrenäen vom Rest der Welt abschneiden. Die Tragik des Films besteht darin, dass zwar geteilte Erfahrungen und Mitgefühl verbinden, ein spontaner Freundschaftsdienst aber auch schnell zu einer folgenreichen Dummheit ausarten kann. Kaum haben sich die Nachbarn untereinander arrangiert, werden sie von einer höheren Ordnung wieder auseinandergerissen. Im berührenden Schlussbild möchte Lucie ihren Nachbarn zwar am liebsten um den Hals fallen, wird von einem bürokratischen Rechtsstaat aber buchstäblich auf Distanz gehalten.

 

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