Der Unhold

Literaturverfilmung | Deutschland/Frankreich/Großbritannien 1996 | 117 Minuten

Regie: Volker Schlöndorff

Ein innerlich Kind gebliebener französischer Automechaniker wird während des Zweiten Weltkrieges als Kriegsgefangener nach Ostpreußen deportiert, wo er in einer NS-Eliteschule zuerst als Knecht beschäftigt ist, dann aber Jungen aus der Umgebung rekrutiert. Ambitionierte, aufwendige Literaturverfilmung, die versucht, die Faszination des nationalsozialistischen Kultes auf ihre mythischen und romantischen Wurzeln hin zu durchleuchten. Ein historisch und politisch um Differenzierung bemühter wuchtiger Bilderbogen, der in seiner Intention allerdings eher verwirrend bleibt. - Ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
THE OGRE | LE ROI DES AULNES
Produktionsland
Deutschland/Frankreich/Großbritannien
Produktionsjahr
1996
Produktionsfirma
Studio Babelsberg/Renn Prod./Recorded Pictures
Regie
Volker Schlöndorff
Buch
Jean-Claude Carrière · Volker Schlöndorff
Kamera
Bruno de Keyzer
Musik
Michael Nyman
Schnitt
Nicolas Gaster · Peter Przygodda
Darsteller
John Malkovich (Abel Tiffauge) · Armin Mueller-Stahl (Graf von Kaltenborn) · Gottfried John (Oberforstmeister) · Marianne Sägebrecht (Frau Netta) · Volker Spengler (Reichsmarschall Göring)
Länge
117 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Literaturverfilmung
Externe Links
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Heimkino

Verleih DVD
BMG (16:9, 1.85:1, DD5.1 engl./dt.)
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Diskussion
Von frühen Kindertagen an wird der einfältige Abel in die Rolle des Außenseiters und Sündenbocks gedrängt: im Internat muß er für die Scherze anderer büßen, als Erwachsener steht er als vermeintlicher Kinderschänder unschuldig vor Gericht. Die Zufällt: aber, die ihn immer wieder vor drohenden Konsequenzen bewahrten, schreibt der Einfaltspinsel einem geheimnisvollen Schicksal zu, das ihn für große Aufgaben ausersehen habe. So glaubt er den Rausschmiß aus dem Internat vereitelt zu haben, weil seine Schutzmächte die Schule in ein Flammenmeer aufgehen ließen, dem Zuchthaus entronnen zu sein, weil der Zweite Weltkrieg losbrach, wo es ihn als französischen Kriegsgefangenen bald nach Ostpreußen verschlägt. Dort, in den Weiten Masurens, inmitten dunkler Wälder und kalter Seen, fühlt Abel sich endlich frei, weil seine kindlichen Fantasien in Erfüllung gehen. Das Los der Gefangenschaft drückt ihn nicht, sein Tagwerk, Gräben für KZ-Bauten in die Landschaft zu ziehen, überreißt er nicht. Als es ihn auf den Jagdhof Görings verschlägt und er sich inmitten der Offiziere und des völlig überdrehten Reichsfeldmarschalls wie eine Art Hofnarr bewegt, scheint der Tor am Ziel seiner Bestimmung. Doch erst die Niederlage von Stalingrad öffnet dem sanften Riesen die Pforten des Paradieses: die Zugbrücke der alten Ritterburg Kaltenborn, wo die Nazis ihren Elitenachwuchs heranzüchten. Zusammen mit Frau Netta, einer ähnlich simplen Kindernärrin wie er, umsorgt Abel fortan eine riesige Knabenschar, schafft Nahrung herbei und bewacht nachts das Feuer im Schlafsaal. Tagsüber streift er in Begleitung riesiger Dobermänner auf seinem schwarzen Pferd durch die Gegend, immer auf der Suche nach neuen Knaben, die er auf die Burg bringen will. Ein Unhold, so eilt ihm unter der Bevölkerung voraus, mache die Gegend unsicher.

Fünf Jahre nach seiner Max-Frisch-Adaption "Homo Faber" (fd 28 804) präsentiert Volker Schlöndorff eine neue, sehr ambitionierte Literaturverfilmung, der das 1970 erschienene Buch "Der Erlkönig" zugrunde liegt. Wie schon in "Die Blechtrommel" (fd 22 008) steht die Zeit des Nationalsozialismus im Mittelpunkt. Das Interesse des Romanciers aber gilt anders als bei Grass nicht dem Kleinbürgertum, sondern dem irrationalen, in den Tiefen der Empfindung und Stimmung wurzelnden Untergrund, aus dem die braune Ideologie erwuchs. Sein Held ist ein harmlos-gefähricher Fantast, ein großgewordenes Kind, dessen Naivität und Einfalt ihn zum willigen Werkzeug einer Todesmaschinerie macht, die sich meisterhaft der Bilder, Töne und Chiffren zu bedienen weiß, auf die Abels reine Seele eingeschworen ist. Schlöndorffs Interesse für das Verhalten des einzelnen innerhalb formierter Gruppen hat über die großen cineastischen Herausforderungen der bildhaften Umsetzung hier vor allem einen Stoff erspürt, in dem die Macht kollektiver Mythen und Archetypen auf das Denken und Handeln anschaulich zu greifen ist. Stärker noch als Tournier rückt er jene Elemente in den Vordergrund, die mit dem "deutschen Wesen" assoziert werden: Naturmystik, Romantizismus, Nibelungentreue und Schicksalsglauben, Topoi, die sich in den grandiosen Inszenierungen der Nationalsozialisten ungehemmt durch Pathosformeln und Verstandesfesseln entfalten konnten.

Beklemmend akribisch knüpft Schlöndorff an Leni Riefenstahls Bilddramaturgie an, entwirft Görings Jagdhof als prunkvoll-dämonischen Wallhall, die ansehe Kaderschule als mythische Ritterburg für moderne Gralsritter, in der blauäugige Blondschöpfe sonnenüberflutet ihre Körper stählen oder im Widerschein der Fackeln die richtige Gesinnung buchstabieren. Wagner-Klänge, Massenchoreografien und den ganzen Pomp des Dritten Reiches bezieht Schlöndorff immer wieder auf den Blick des Fremden, der als Beobachter mal staunend, mal desinteressiert dem Spektakel folgt. Obwohl Abel vom ideologischen Überbau unberührt bleibt und im Grunde die Kinder vor den Erwachsenen schützen will, besorgt er das Geschäft der Vernichtung. Eingelullt in seine Wahngespinste, beginnt der verführte Verführer erst zu zweifeln, als er einem halbverhungerten Kind aus dem KZ begegnet: ein Rattenfänger im Bann mächtiger Schalmeien. Denen aber auch diejenigen folgen, die sich Wachs in die Ohren gestopft haben: Adelige und Offiziere, die Gehorsam, Fahneneid und das Vaterland über ihre Zweifel stellen.

Schlöndorffs wuchtiger, mit großem Aufwand in Szene gesetzer Bilderbogen überzeugt dort, wo es ihm gelingt, die Faszination des braunen Kultes anschaulich zu machen und seine volkstümlichen Wurzeln in Märchen, Mythen und musikalischen Weisen durchscheinen zu lassen. Trotz der stupenden "correctness" aber, mit der er den historischen Zeitläufen und gesellschaftlich-politischen Hintergründen gerecht zu werden versucht, bleibt ein leises Unbehagen, das sich an der Frage nach den Intentionen entzündet. Die Haltung eines Regisseurs, sich mit seiner Kunst in den Dienst bedeutender literarischer Werke zu stellen, stößt an eine Grenze, wo der Stoff zu zeit- oder ortsgebunden ist. Abel Tiffauges ist eine zwiespältige Sagengestalt, weil sie irgendwo in der Mitte von Allegorie und Analyse angesiedelt ist. In Schlöndorffs Film ist man sich oft nicht sicher, ob man einer Dekonstruktion von Politik als inszenierter Schein beiwohnt, einer Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus oder einem Diskurs über Mythen und ihre Wirkmächtigkeit. Und wer sich auf die Suche nach Aktualisierung begibt, gerät über jene Treibjagdszene leicht auf Abwege, in der Volker Spengler als Darsteller Görings dem ehemaligen bayerischen Ministerpräsidenten Strauß wie aus dem Gesicht geschnitten sieht.
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